Rückblick:Sommerglück im Fremdenzimmer

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Die freien Tage verbrachte man früher meist in der Nähe des Wohnorts. Zu den Höhepunkten zählte etwa dieser Ritt auf Gummipferden im Wannsee aus dem Jahr 1925. (Foto: Scherl/SZ Photo)

Richtig Urlaub machen die Deutschen erst seit 100 Jahren - und der fand gewöhnlich im eigenen Land statt.

Von Joachim Käppner

Die ministeriale Task Force aus Deutschland begab sich wohlpräpariert in die USA, ihr Ziel: Dortigen Investoren die neuen Bundesländer anzupreisen, wo leistungsstarke Arbeitnehmer ebenso zu finden seien wie erfreuliche Förderung durch die öffentliche Hand. Das war in den 1990er-Jahren. Die Präsentationen im Herzland des free enterprise fanden dort erhebliches Interesse, freilich nicht immer das erhoffte. Wie zur Hölle wollt ihr Germans ein Land aufbauen, wenn die Arbeitnehmer meistens freihaben, wurden sie gefragt. Mit vier bis sechs Wochen Ferien, Bildungsurlaub und mehr waren die deutschen Arbeitszeitregelungen nicht geeignet, die harten Herzen der Bosse in den USA zu erwärmen, wo selbst Hochqualifizierte selten mehr als zwei Wochen im Jahr haben.

Reisen zur Erholung oder Erweiterung des Wissens gab es indes schon in der Antike. Reiche Römer leisteten sich Villen am kühlen Meer oder in den Hügeln, der reisefreudige Kaiser Hadrian begab sich zur Löwenjagd nach Libyen, der spätere Imperator Marc Aurel schrieb seinem Lehrer Fronto vom Landsitz aus: "Dann gingen wir Trauben schneiden und kamen kräftig ins Schwitzen, dabei jodelten wir." Für Reisende gab es schon spezielle Unterkünfte. Im Mittelalter waren es vor allem christliche Pilger, die in erstaunlicher Zahl und unter Gefahr für Geldbeutel, Gesundheit oder Leben heilige Stätten besuchten, sogar die Grabeskirche im fernen Jerusalem.

In der Neuzeit blieb privates Reisen überwiegend ein Privileg der Oberschichten, welche Mittel und Muße dazu besaßen. Noch im 18. Jahrhundert hatten sehr viele Menschen kaum mehr als ihr Dorf und dessen Umgebung gesehen. Vor der Eisenbahn blieben solche Reisen zu Fuß, zu Pferd, in der Kutsche oder per Schiff teuer, mühselig und auch gefährlich. Ein der Wallfahrtskirche Mariabuchen gespendetes Gemälde zeigt wohlgekleidete Reisende mit Koffern, die im Spessart unter die Räuber fallen und von bewaffneten Dorfbewohnern gerettet werden.

Tariflicher Urlaub des Arbeitnehmers entstand in Deutschland eigentlich erst in der Kaiserzeit, zuerst für die Beamten. Aus dieser Zeit stammen die Badeanstalten am Meer und an manchen Seen sowie die Hotelpaläste, sofern sie Krieg und Abrisswahn überlebt haben. An die Arbeiter, die zwölf Stunden und mehr in der Fabrik schufteten, dachte zunächst kaum jemand. Erst in der Weimarer Republik bekamen schwächere Schichten ein Recht auf Urlaub. Die Wohlhabenden flogen im Zeppelin nach New York oder genossen Schiffsreisen auf dem Mittelmeer. Viele machten, wenn das Geld gerade reichte, Urlaub in der näheren Provinz, wie Kurt Tucholskys Berliner Liebespaar Claire und Wolfgang in Rheinsberg: "Der Lärm ihres täglichen Lebens, ... der eine bestimmte Menge Lebensenergie wegnahm, ohne daß man es merkte... Aber hier war es nun still."

Zur frühen Popularität des Naziregimes, vor dem Tucholsky ins Exil floh, trug der staatliche bezuschusste Urlaub für die Massen bei. Mit "Kraft durch Freude" gingen Millionen auf Reisen, mehrheitlich innerhalb Deutschlands.

Der Urlaub, wie ihn deutsche Arbeitnehmer heute kennen, ist ein Ergebnis des Wirtschaftswunders und des Rheinischen Kapitalismus. Schon im Jahrzehnt nach dem Krieg nutzten viele Westdeutsche ihren bescheidenen neuen Wohlstand, um mit Brezelfenster-Käfern oder dem Moped in den Schwarzwald zu fahren oder an Bayerns Seen. Das Pensionsschild "Fremdenzimmer mit fließendem Wasser" klang wie eine Verheißung des Glücks. Immer mehr reisten auch ins nahe Ausland, besonders nach Italien (und manche taten dies in erstaunlicher Verkennung der Gefühle, die man dort an die Zeit der brutalen deutschen Besatzung hegte). In der DDR gehörte der staatlich organisierte Urlaub im Land selbst oder am bulgarischen Strand zu den kleinen Freiheiten.

Urlaub im eigenen Land wird nun zurückkehren, coronabedingt, und vielen, die in der Ära der Billigflüge in alle Winkel der Welt tourten, wie eine Zeitreise erscheinen. Der Massentourismus hat im Inland wie in der Fremde freilich ungeahnte Verheerungen angerichtet. Es ist kein Zufall, dass das Coronavirus seinen Siegeszug unter anderem von Ischgl aus antrat, einer Hochburg dessen, was viele Leute für eine Wahnsinns-Urlaubsgaudi halten.

Hans Magnus Enzensberger schrieb schon in den 50ern, als Herzschmerzfilme wie "Das Schwarzwaldmädel" die Deutschen nicht nur ins Kino, sondern auch in die vermeintlich heile Welt der Feriengebiete lockte: "Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet." Ob das so stimmen muss, liegt auch an den Touristen selbst.

© SZ vom 09.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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