Regierung will Reform:Bundesschwer und Zuvieldienst

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Die Koalition plant die Verkürzung von Wehrpflicht und Zivildienst. Was geht da verloren? Wir haben in der Redaktion nachgefragt und erschütternde Erfahrungsberichte gesammelt.

Damals, 1980, als der Krieg noch kalt und die Vorhänge eisern waren, mussten westdeutsche männliche Menschen nach Vollendung des 18. Lebensjahres für 15 Monate zum Bund.

Bundeswehrsoldaten im Jahr 1975: Damals dauerte die Grundausbildung noch länger als heutzutage. (Foto: Foto: Getty)

15 Monate Wehrpflicht, das sind eineinviertel Jahre oder, wie es die "Rotärsche" (so nannte man die frisch Eingezogenen) sofort eingetrichtert bekamen, 456 Tage, die sie dem Vaterland - und nur ihm! - nun dienen würden. Für 18-Jährige, das zur Erinnerung, sind 456 Tage etwa 7 Prozent ihrer bisherigen Lebenszeit, also eine ziemlich lange Zeit. Zumal viele von ihnen diese bis dato Lebenszeit bewusst nur als Schulzeit erlebt haben werden.

Mit anderen Worten: Bundeswehrtaugliche Menschen, die im Sommer das Abitur bestanden hatten, erhielten ihr Zeugnis mit den Worten: "Dein Stahlhelm ist schon gepresst." Denn etwa drei Tage später (es war immer noch in derselben Woche) beging man den ersten dieser 456 Tage - mit arg kurzen Haaren, unbekannten Mitrekruten und einem Seesack voller komischer Anziehsachen. Während die ersten Stunden nach Betreten der Kaserne nach einem Masterplan und in ihren Abläufen wie von einem feinen Räderwerk bestimmt und durchkomponiert waren: Kleiderausgabe, Stube und Bett beziehen, Personaldinge abgeben, Hundemarke erhalten (und dabei immer mit ganz vielen männlichen Gleichaltrigen unterwegs sein), brachte das stumm eingenommene Mittagessen eine erste Vergewärtigungspause, quasi die Kontemplation in der Kantine: 456 Tage vor mir in Olivgrün - oh Mann!

Das bedeutet: Nächstes Jahr um exakt diese Zeit werde ich noch immer olivgrün sein. In drei Monaten werde ich sagen können: "Noch ein Jahr!" Oh Mann! Und dann sah ich etwas, begriff es erst nicht, und als ich es begriffen hatte, ließ es mich 456 Tage lang nicht los: Das Maßband.

In der Kantine saß jemand, der von einem zusammengerollten Schneidermaßband 1 cm abschnitt, die Schnittstelle mit einem Feuerzug erhitzte und das neue Ende wieder auf die Rolle klebte. Dann kam er feixend zu mir, zeigte mir sein 89 cm langes Maßband und sagte: "Schau, Rotarsch! Nur noch 89 Tage! Du, Rotarsch, müsstest jetzt eigentlich mein Maßband küssen! Denn Rotärsche müssen alle Maßbänder küssen, auf denen weniger als 90 Tage stehen. Aber ich will heute mal nicht so sein. Denn du, Rotarsch, kannst heute drei Maßbänder zusammenkleben - und wirst doch erst in einer Woche anfangen können, von deiner Kabeltrommel abzuschneiden."

Und, ja, genauso habe ich es gemacht: drei Schneidermaßbänder mit dem Feuerzeug zusammengeschweißt, engstens zusammengerollt - und ab da immer "am Mann" gehabt. An Wochenenden, im Dienst, im Urlaub. Die Kabeltrommel schrumpfte anfangs fast nicht, dann ein wenig, dann mit jedem Schnitt immer mehr. Irgendwann hatte ich nur noch 89 Tage, erinnerte mich an meinen ersten - und dann habe ich mein eigenes Maßband geküsst.

Ich gehöre zu den armen Säuen. 20 Monate Zivildienst, so viel staatlich vergeudete Zeit gab es weder vorher noch nachher. Dagegen haben wir gestreikt, was ein Zivi nicht darf. Und mussten prompt ein Tag länger "dienen".

Überhaupt das Wort "dienen". Es war uns schon bewusst, dass wir im Kriegsfall dazu verdonnert werden würden, die Bunkertüren aufzuhalten oder Verletzte zu versorgen. Doch ein Krieg bedeutete 1988/89 noch atomare Auslöschung, the Day After. Deshalb ergab es einfach keinen Sinn, zur Bundeswehr zu gehen - und war in der Betreuung von MS-Betroffenen, dann täglich mit Leid und Tod beschäftigt.

Ein paar Jahre später habe ich die Entscheidung nochmals überdacht: Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht gewesen, mit einer Waffe umgehen zu können? Schließlich könne es ja noch sein, dass man noch im Untergrund agieren will. Nun, dazu ist es dann auch nicht gekommen.

Rot-Grün war mein Glück - und die damalige Praxis, bei der Musterung mit T3 zwar als wehrpflichtig, aber nicht als wehrfähig eingestuft zu werden. Ein leicht lädiertes Knie und ein daraus resultierendes Attest von meinem Arzt taten ihr Übriges: Ich wurde zurückgestellt, was in meinem Fall einer Ausmusterung gleichkam.

Sonst hätten zwölf Monate Zivildienst oder Bund auf mich gewartet und damit ein Jahr mehr bis zum Studienbeginn. Da ich schon lange vor meinem Abitur im Jahr 2004 wusste, was ich studieren wollte, nämlich Philosophie und Geschichte, konnte ich es kaum erwarten, vom Bundeswehrarzt einen Ausmusterungsbescheid zu bekommen.

Der kam nur wenige Tage nach der ärztlichen Untersuchung in Form eines Rückstellungsbescheides zu mir ins Haus geflattert. Nachdem ich wenige Monate später zum Wintersemester meinen Studienplatz in der Tasche hatte, war klar, dass ich zunächst meine universitäre Ausbildung beginnen konnte und erst im Anschluss daran auf ein Neues die Aufmerksamkeit der Bundeswehr auf mich ziehen würde. Nun, sechs Jahre später, habe ich die magische Altersgrenze von 25 Jahren überschritten, mein Studium befindet sich in den letzten Zügen. Zum Bund muss ich mit Sicherheit nicht mehr.

Auch meine Musterung selbst ist ziemlich unkompliziert verlaufen. Wiegen, Körpergröße messen, Reflexe checken, das bekannte Husten, anschließend ein Blick in das erwähnte Attest meines Sportarztes - schnell war die Sache klar, ich konnte wieder nach Hause gehen. Da ich zudem im Vorgespräch mit einem Bundeswehrbeauftragten durchblicken ließ, kein besonderes Interesse daran zu haben, an der Waffe ausgebildet zu werden, hatte auch der Bund kein besonderes Interesse an mir.

Ähnlich erging es meinen Altersgenossen: Wer nicht zum Bund wollte und zudem das ein oder andere Wehwechen hatte, konnte den einjährigen Dienst für das Vaterland kinderleicht umgehen. So kam es, dass in meiner Abiturklasse von knapp 45 männlichen Schülern weit weniger als ein Dutzend eingezogen wurden - und, so wie bei den weiblichen Mitschülern, kein weiteres Jahr bis zum Studienbeginn verging.

Als ich im Sommer 2002 meinen Wehrdienst begann, bekam ich wie alle Rekruten auch gleich ein Willkommenspaket: Rasierschaum, eine Dose Cola, lauter so Zeug. Mit dabei war aber auch der obligatorische "Ausscheider-Kalender".

Ausscheiden bedeutet bei der Bundeswehr, nicht mehr dabei zu sein, die Truppe verlassen zu dürfen. Manch einer traute sich, den Pappkalender gleich zu Anfang der neun Monate in seinen Spind zu hängen, obwohl er dann mit einigen dummen Sprüchen der Vorgesetzten rechnen musste. Von Beginn an konnte er so runterzählen, jeden Tag die Spule weiterdrehen. Bei manchen wurde es zum morgendlichen Ritual. Als sie die Schallmauer durchbrachen, und die Zahl der verbliebenen Tage zweistellig wurde, rieben sie sich die Hände.

Ich tat das nicht. Nicht, weil ich jeden Tag bei der Bundeswehr genoss. Nein, aber es war auch nicht so schlimm, dass ich jeden Tag davon hätte abzählen müssen. Die neun Monate waren nicht zu lang, sie waren auch nicht zu kurz. Wenn ich damals nur sechs Monate in der Truppe gewesen wäre, ich hätte viel weniger erlebt.

Immerhin gab es etwas zu erleben: Wir waren in Füssen im Allgäu stationiert, Gebirgsjägerbrigade. Aus unserer Stube sahen wir die Berge. Wir haben Winterkampf trainiert, wir sind die Berge mit Fellen auf den Skiern hochgelaufen, stundenlang, um sie dann in wenigen Minuten wieder runterzufahren. Das klingt frustrierend, aber es hat Spaß gemacht. Fast allen in unserer Truppe.

Wäre ich nur sechs Monate da gewesen, hätte ich das alles verpasst. Ob ich auch weniger gelernt hätte? Nein, denn egal, ob sechs oder neun Monate, nach einigen Jahren ist das Meiste ohnehin vergessen - außer jene Erlebnisse in den Bergen.

Ende der achtziger Jahre war die Verweigerung noch eine echte Entscheidung. Wer den Dienst an der Waffe nicht mit seinem Gewissen vereinbaren konnte oder wollte, hatte drei Möglichkeiten: zähneknirschend Zivildienst leisten, irgendwie ausgemustert werden oder sich jahrzehntelang bei der Freiwilligen Feuerwehr verdingen. Die Feuerwehr-Karte spielten nur Leute, die auch sonst gerne als Schuhplattler, Schützen oder Trachtler durch die Straßen marschierten.

Auf Ausmusterung zu spekulieren war deshalb schwierig, weil es so viele versuchten. Menschen mit Katzenhaarallergien legten sich vor dem Musterungstermin tagelang mit einem geliehenen Tier ins Bett. Andere baten befreundete Ärzte, einen Herzfehler aus der Kindheit zum unmittelbaren Lebensrisiko hochzuattestieren. Das führte zu einer Inflation: Wer ohne Halbtot-Stempel kam, war automatisch tauglich, eignete sich bestens für den Dienst am Volk.

Das Volk, vertreten durch das Kreiswehrersatzamt, sorgte am Tag der Musterung ohnehin für ein unvergessliches Ereignis in Leben eines jungen Mannes. Zunächst wurden alle und wirklich alle intimen Körperzonen dienstärztlich wegvisitiert. Danach kam der scheele Blick für Verweigerer. Gesendet von den Mitgliedern eines generalischen Altherrengremiums. Süffisant gab deren Sprecher noch den amtlichen Hinweis, nun fünf Monate länger bedienstet zu sein als Wehrdienstleistende, nämlich zwanzig Monate. Auf dem Nachhauseweg dachte man: "Welches Verbrechen habe ich begangen, um so bestraft zu werden?"

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