Joachim Seeger ist schon seit vielen Jahren einer der leitenden Leute beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Am Montag hatte er es eilig. Mit einer E-Mail in die gesamte Republik rief Seeger, als Abteilungsleiter zuständig für Rechtsextremismus, die Chefs der 16 Landesämter für Verfassungsschutz zusammen. Um vier Uhr nachmittags wurde man telefonisch zusammengeschaltet. Die 16 Damen und Herren warteten in der Leitung. Seeger hatte ihnen vorab nur einen recht beliebig klingenden Tagesordnungspunkt genannt: "Nachbereitung der Ereignisse in Chemnitz". Aber in Wahrheit ahnten die meisten ohnehin, worum es ging.
Gerade hatten zwei Verfassungsschutz-Landesämter, Bremen und Niedersachsen, großes Aufsehen erregt: Zum ersten Mal, so hatten sie um die Mittagszeit vor Kameras verkündet, wolle man eine Parteigliederung der AfD als "extremistisch" beobachten. Man werde die AfD-Nachwuchsorganisation Junge Alternative (JA) geheimdienstlich ins Visier nehmen. So wie eine gewöhnliche Neonazi-Truppe. So wie zuvor auch schon die sogenannte Identitäre Bewegung, zu der JA-Leute engen Kontakt pflegen würden.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz, das laut gesetzlichem Auftrag als "Zentralstelle" zwischen den 16 Ländern moderieren soll, war davon offenbar kalt erwischt worden. Eigentlich ist es zwischen Bund und Ländern üblich, dass man sich intern einen Wink gibt, bevor solche Entscheidungen öffentlich gemacht werden. Doch Bremen und Niedersachsen hatten den Bund bis zuletzt im Dunkeln gelassen. Joachim Seeger also, so berichten es Teilnehmer der Schalte, ergriff das Wort und sagte, er sei schon überrascht, dass die beiden Länder so plötzlich "ausgeschert" seien.
Im Hintergrund schwelt offenbar seit Monaten ein Dissens. Einzelne Bundesländer werben intern schon länger für eine härtere Gangart der Verfassungsschutzämter gegenüber der AfD. Von einer Verzögerungstaktik des Bundesamts sprechen einzelne inzwischen: "Der Bund steht auf der Bremse." In Bremen und Niedersachsen hat sich diese Unzufriedenheit nun offenbar zum ersten Mal Bahn gebrochen.
Parteien genießen besondern Schutz nach dem Grundgesetz
Zwar ist jedes Landesamt souverän in seiner Entscheidung, rechte Gruppierungen auf seinem Gebiet als Gefahr für die Demokratie zu bewerten und zu beobachten. Der Bund kann niemandem etwas vorschreiben. Bislang waren sich die Verfassungsschützer in Bund und Ländern aber einig, dass es im Fall der AfD sinnvoll sei, eine gemeinsame Linie zu finden. Auch deshalb, weil die Sache juristisch heikel ist. Parteien genießen besonderen Schutz nach dem Grundgesetz. Wenn die Verfassungsschutz-Praxis bundesweit allzu weit auseinanderginge, würde es AfD-Politikern viel leichter fallen, Willkür zu beklagen und sich erfolgreich vor Gericht zu wehren.
Aus den Ländern ging deshalb schon vor einem guten Jahr eine Bitte an das Bundesamt: Der Bund möge alle bisherigen Erkenntnisse über die AfD aus den Ländern zusammentragen. Die 16 Lagebilder würden dann eine "Gesamtschau" über die Partei und ihre Untergruppen erleichtern sowie Querverbindungen erkennbar werden lassen. Damit gäbe es eine Entscheidungsgrundlage für alle Länder, ob und wie man mit einer offiziellen geheimdienstlichen Beobachtung beginnen sollte.
Nur: Seither sei wenig geschehen, beklagen einzelne Länder. Zwar hätten inzwischen fast alle ihre geheimen AfD-Dossiers an den Bund übermittelt. Auf eine Antwort des Bundesamts, die versprochene Gesamtschau, warte man aber noch. Als zu Beginn dieses Jahres das leise Grummeln in einzelnen Landesämtern die Schwelle der Hörbarkeit erreichte, schaltete sich Hans-Georg Maaßen ein, der Chef des Bundesamts: Bei einem Treffen mit seinen 16 Länderkollegen in Köln am 8. März mahnte er, man solle bei dem verabredeten solidarischen Vorgehen bleiben. Also keine Ungeduld bitte, und keine Alleingänge.
In geheimer Runde diskutierten fünf Länder, ein Netzwerk rechter AfD-Politiker zu beobachten
Als Sprachregelung einigte man sich auf einen Formelkompromiss, der den internen Zwist übertünchen sollte. "Derzeit", so erklärten Bundesamt und Landesämter in ihrer ersten gemeinsamen Pressemitteilung überhaupt, "sind keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte ersichtlich, die eine Beobachtung der AfD als Partei durch den Verfassungsschutzverbund begründen würden." Allerdings: Man prüfe "fortlaufend, ob Bestrebungen vorliegen, die den Kernbestand des Grundgesetzes zu beeinträchtigen oder zu beseitigen versuchen", und auch "ob es sich um Einzelmeinungen und -agitationen oder um eine parteipolitische Leitlinie handelt". Ein Zugeständnis an die Ungeduldigeren.
Zu dieser Gruppe gehörten - zumindest zeitweise - Nordrhein-Westfalen, Berlin, Brandenburg und Thüringen. Am 1. Juni des vergangenen Jahres hatten ihre Verfassungsschutzchefs sich in Düsseldorf getroffen, als Fünfte im Bunde war die Amtschefin aus Niedersachsen dabei. Der Gastgeber, Nordrhein-Westfalens Burkhard Freier, präsentierte ein umfangreiches Gutachten seiner Fachleute über die Patriotische Plattform (PP), ein Netzwerk aus AfD-Politikern vom äußersten rechten Rand. Die Überlegung: Wenn man offene Rassisten geheimdienstlich beobachten wolle, ohne aber Rechtskonservative in der Gesamtpartei pauschal in Mithaftung zu nehmen, dann könnte man bei der PP ansetzen. "Vertreter und Protagonisten der Patriotischen Plattform beziehen vermehrt offen rechtsextremistische, insbesondere 'ethnopluralistische' Positionen", hieß es.
Aus dieser geheimen Fünferrunde zeigen heute manche Verständnis dafür, dass die Kollegen in Niedersachsen und Bremen nicht länger auf das Bundesamt warten wollten, sondern am Montag vorgeprescht sind. Andere, die es weiter wichtig finden, dass Bund und Länder sich zusammenraufen, äußern aber auch Kritik. Die beiden Landesämter seien, womöglich auf politischen Druck ihrer SPD-Innenminister hin, "ausgerutscht". Anstatt weiter auf einen Konsens hinzuarbeiten.
Für sie alle, also für die Ungeduldigeren unter den Landesämtern genauso wie für die deutliche Mehrheit der weiter eher Skeptischen, hatte Joachim Seeger am Montag noch eine Einladung ausgesprochen. Ende November oder Anfang Dezember sollen die Fachleute von Bund und Ländern zusammenkommen, um über neurechte Gruppierungen wie die Kampagne "1 Prozent" zu beraten. Aber gern auch über die AfD.