Rechtliche Grundlage:Da geht noch was

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Das Grundgesetz definiert für eine Dienstpflicht enge Grenzen. Für ein neues Modell müsste man wohl die Verfassung ändern.

Von WOLFGANG JANISCH

Das furchtbare Nazi-Regime war gerade erst vorbei, als sich in den späten 1940er-Jahren der Parlamentarische Rat in Bonn traf, um ein Grundgesetz zu formulieren, das auf Freiheit statt auf Zwang setzte. Als ein Verbot von Zwangsarbeit auf der Tagesordnung stand, hatte man daher noch die Arbeitslager der Nazis vor Augen. Doch die Abgeordneten beobachteten auch andere Entwicklungen, die es in einem freiheitlichen Deutschland zu unterbinden galt. Der Staatsrechtler Carlo Schmid vermutete, Zwangsrekrutierungen in der "Ostzone" für den Uranbergbau im Erzgebirge seien dort wohl gesetzlich erlaubt. Der Sozialdemokrat Georg-August Zinn verwies auf den Arbeitszwang in der Sowjetunion. Und Hermann von Mangoldt, Politiker und Jurist, warnte allgemein vor der Trägheit und Bequemlichkeit totalitärer Regime, die auf Zwang setzten, sobald Schwierigkeiten auftauchten. Kurzum: Es musste ein hoher Schutzwall gegen Zwangsarbeit her.

Herausgekommen ist seinerzeit eine merkwürdige Formulierung, die es den Befürwortern einer allgemeinen Dienstpflicht nun schwer machen dürfte, ihre Pläne mit jenem Artikel 12 Absatz 2 des Grundgesetzes in Einklang zu bringen: "Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht." Zwangsarbeit Nein, Dienstpflicht Ja?

Da geht doch was, mag man auf den ersten Blick denken. Tatsächlich hatten sich die Verfassungsautoren, bei aller Grundsätzlichkeit, den Blick fürs Pragmatische bewahrt. Die Dörfer waren damals darauf angewiesen, dass die Bauern - wenn sie nicht gerade ackern oder ernten mussten - ihre Fuhrwerke auch mal für den Ausbau der Dorfstraße oder das Ausheben eines Wassergrabens zur Verfügung stellten; Hand- und Spanndienste nannte man das. Und dann die Feuerwehr, auch dafür musste eine Dienstpflicht erhalten werden.

Aus der Perspektive des Jahres 2018 könnte man daher argumentieren: Das Gemeinwesen braucht zwar keine Hand- und Spanndienste mehr, aber es benötigt helfende Hände für den Erhalt der Natur oder für eine menschenwürdige Pflege. Was früher der Zusammenhalt der Dorfleute war, ist heute die Solidarität der Generationen. Pädagogisch unterfüttern ließe sich die Pflicht ohnehin.

Dieses Gedankengebäude wird freilich durch ein einziges Wort zum Einsturz gebracht - so jedenfalls ist bisher die gängige Meinung zu Artikel 12 Absatz 2. Dort ist nämlich von einer "herkömmlichen" Dienstleistungspflicht die Rede. Mit "herkömmlich" wollten die Verfassungsgeber den Pflichtenkanon aus der Zeit vor der Naziherrschaft in die Bundesrepublik hinüberretten. Offenkundig wollten sie aber der Fantasie bei der Erfindung künftiger Dienstpflichten enge Grenzen setzen; "herkömmlich" ist eben nur die Tradition, nicht die Zukunft. Jedenfalls kam der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages vor zwei Jahren zum Ergebnis, ein ökologisches oder soziales Pflichtjahr wäre keine "herkömmliche" Pflicht, wie man es auch dreht und wendet. Und damit nach der geltenden Verfassung unzulässig.

Mit einfacher Mehrheit im Bundestag wäre daher ein Pflichtjahr wohl nur auf dem Umweg über die Reaktivierung der ja nicht abgeschafften, sondern nur ausgesetzten Wehrpflicht möglich - also mit der Rückkehr zum Zivildienst. Wenn das politisch nicht gewollt ist, bleibt wohl nur die Änderung des Grundgesetzes. Dafür ist eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderlich. Also der ganz große Parteienkonsens, der aber bei einer so grundstürzenden Reform ohnehin gesellschaftspolitisch sinnvoll wäre.

Damit wären freilich noch nicht alle Unwägbarkeiten ausgeräumt. Denn auch Artikel 4 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbietet "Zwangs- und Pflichtarbeit" - womit aus Sicht des Wissenschaftlichen Dienstes selbst eine Grundgesetzänderung unzulässig sein könnte. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte finden sich zu diesem Thema indes eher Fälle afrikanischer Frauen oder Kinder, die in Europa gleichsam zu Zwangsarbeitern gemacht wurden; das Gericht hatte beispielsweise Frankreich und Großbritannien wegen unzureichender rechtlicher Schutzvorkehrungen verurteilt. Mit einem Öko-Jahr hat das herzlich wenig zu tun. Andererseits: Sollte Deutschland eine Arbeitspflicht einführen, dürfte der Gerichtshof schon deshalb genau hinschauen, weil Vorbilder aus funktionierenden Rechtsstaaten gern missbraucht werden - in Ländern, in denen es das Recht schwer hat.

Letztlich will der Gerichtshof aber eine "ungerechte" Arbeitspflicht verhindern. Daher wird es darauf ankommen, ob eine Dienstpflicht nicht nur Lasten, sondern auch Nutzen bringt. Erwirbt man damit Vorteile bei der Ausbildungssuche? Ist sie in ein Konzept sozialer Solidarität eingebunden? Und wird sie ordentlich bezahlt? Wenn die Antworten darauf dreimal "Ja" lauten, dürfte auch diese Hürde zu nehmen sein.

© SZ vom 07.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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