Rassistische Krawalle in Moskau:Ein Vulkan bricht aus

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Auf dem Heimweg durchs nächtliche Moskau wird Jegor Schtscherbakow niedergestochen. Der Mörder? Angeblich ein Kaukasier. Russlands Nationalisten reicht das als Anlass, um in den Straßen der Hauptstadt ihren Fremdenhass auszutoben. Und die Polizei? Nimmt bei einer Großrazzia Hunderte Migranten fest.

Von Julian Hans, Moskau

Als der wütende Haufen weitergezogen war, blieb ein süßer Geruch zurück. Drei Autos lagen umgestürzt auf ihren Dächern, unter den Sohlen der Polizeistiefel knirschte das Glas und überall auf dem Asphalt war das rote Fleisch reifer Melonen verschmiert. Aufgeplatzte Melonen vor dem Bahnhof und in der Unterführung, zerschmetterte Melonen selbst auf den demolierten Autos. Die Randalierer hatten ein Lager am Straßenrand aufgebrochen und ihre Wut an den Melonen ausgelassen, als wären sie die verhassten Händler selbst, die das Gemüse aus dem Süden in die russische Hauptstadt bringen.

Der Platz vor dem Bahnhof von Birjulewo war bereits die dritte Station dieses zornigen Mobs, der seit dem Nachmittag durch den Stadtteil im Süden der russischen Hauptstadt zog. 20 Minuten fährt der Vorortzug von hier aus ins Zentrum von Moskau. Gegen 17 Uhr hatte die Menge in der Nähe ein Einkaufszentrum gestürmt, Scheiben eingeschlagen, und einen Laden angesteckt. Dann zog sie weiter zum Großmarkt, in dem Wanderarbeiter aus dem Kaukasus und Zentralasien arbeiten, brach das Tor auf, warf Steine und Flaschen, stürzte Container um und verwüstete Geschäfte. "Was tut ihr?", rief eine Verkäuferin nach Berichten von Zeugen. "Wir retten Russland", war die Antwort.

Auslöser der Krawalle war der Tod eines 25-Jährigen in der Nacht auf Donnerstag. Jegor Schtscherbakow hatte seine Freundin nach Hause begleitet, als das Paar gegen 1.30 Uhr auf einen Fremden traf, der die Frau beleidigte. Schtscherbakow habe versucht, sie zu verteidigen, da habe der Fremde ein Messer gezogen und ihn in die Brust gestochen, so berichtete es die Freundin später. Der Mann habe ein kaukasisches Äußeres gehabt. Später veröffentlichte die Polizei ein Bild, das eine Überwachungskamera von dem mutmaßlichen Täter aufgenommen hatte. Am Samstag zogen aufgebrachte Anwohner vor die örtliche Polizeistation und forderten, den Täter ausfindig zu machen und zu verhaften. Als der Leiter der Dienststelle ihnen das versicherte, gingen sie nach Hause.

Die Behörden greifen ihrerseits hart gegen Migranten durch

Spätestens am Sonntag traten dann die Nationalisten auf den Plan. Eine Gedenkfeier am Tatort wuchs am Nachmittag zu dem Protestmarsch an, der unter den Rufen "Russland den Russen, Moskau den Moskauern" zum Einkaufszentrum zog. Es genügte das Gerücht, der Täter habe dort gearbeitet. Erst war die Polizei überrumpelt, dann schickte sie Mannschaftswagen mit Spezialisten für Aufstandsbekämpfung in gepanzerten Uniformen. Bei Einbruch der Dämmerung herrschte in Birjulewo Ausnahmezustand: alle Zufahrtstraßen waren gesperrt, in der Luft knatterten die Rotoren der Polizeihelikopter. Innenminister Wladimir Kolokolzew hatte den Notfallplan "Vulkan" ausgerufen, der alle verfügbaren Kräfte mobilisiert, Truppen des Innenministeriums machten sich auf den Weg. Im Stadtzentrum sperrten Polizisten den Manegenplatz mit Eisengittern ab.

Nachdem ein wütender Mob in der Nacht zu Montag im Süden der russischen Hauptstadt einen Großmarkt überfallen hatte, in dem mehrheitlich Menschen aus dem Kaukasus und aus Zentralasien arbeiten,

Nach den fremdenfeindlichen Krawallen gingen die Behörden am Montag nicht etwa gegen die Urheber des Krawalls vor, sondern nahm die Opfer ins Visier. Bei einer als "präventive Razzia" bezeichneten Aktion durchsuchte die Polizei den Markt in Birjulewo und nahm 1200 Menschen fest. Es solle geklärt werden, ob die Festgenommenen in ein Verbrechen verwickelt seien.

Letzte Eskalation liegt drei Jahre zurück

Beim letzten großen Ausbruch von Fremdenhass in der Hauptstadt hatten vor drei Jahren Hunderte Nationalisten auf dem Manegenplatz in Hör- und Sichtweite des Kremls spontan ihre Macht demonstriert, die Polizei vorgeführt und den Hitlergruß gezeigt. Die Vorgeschichte für die Unruhen vom 11. Dezember 2010, die Nachahmer im ganzen Land fanden, war ähnlich: Ein Fan des Fußballklubs Spartak Moskau war bei einer Schlägerei von einem Mann aus dem Kaukasus tödlich verletzt worden. Der Auftritt der Nationalisten hatte die Führung in Moskau verunsichert. Lang vor den Massenprotesten gegen die gefälschten Wahlen im Dezember 2011 war es die erste große Demonstration in Russland seit langem gewesen.

Der Umgang mit dem Nationalismus im Land ist zwiespältig. Seit er seine dritte Amtszeit als Präsident angetreten hat, beschwört Wladimir Putin auffällig oft die russische Identität und russische Werte, um Russland vom Westen abzugrenzen. Der Einfluss der Orthodoxen Kirche ist gewachsen. Zugleich fehlt in keiner Grundsatzrede der Hinweis darauf, dass Russland ein Vielvölkerstaat ist, in dem die Ethnien und die Religionen brüderlich zusammenleben. Schätzungen zufolge sind etwa 15 Prozent der Staatsbürger Muslime.

Auch grundsätzlich liberale Gegner des Kremls spielen gelegentlich die nationalistische Karte. Im Wahlkampf um das Moskauer Bürgermeisteramt verbreitete der Oppositionelle Alexej Nawalny die Ansicht, mehr als die Hälfte aller Straftaten in Moskau würden von Migranten verübt.

Ein Krisenstab soll illegale Einwanderung bekämpfen

Die Politik reagierte überwiegend mit Verständnis für die Randalierer. Innenminister Wladimir Kolokolzew veranlasste gleich für Montag eine Überprüfung der Moskauer Großmärkte. Sie seien "ein dauernder Herd für Spannungen in den betroffenen Vierteln." Ein Krisenstab soll zudem künftig illegale Einwanderung bekämpfen. Mitglieder des Stabes sind neben der Migrationsbehörde und der Polizei auch Vertreter von Bürgerwehren.

Er könne den Ärger der Menschen verstehen, sagte der Beauftragte der orthodoxen Kirche für den Dialog mit der Gesellschaft, Wsjewolod Tschaplin, der Nachrichtenagentur Interfax am Sonntag: "Wir müssen heute zusammenstehen, um unsere Nächsten, unsere Werte und unser Lebensmodell zu verteidigen." Dass die Freundin des Opfers sich gegen den Fremdenhass ausgesprochen hatte, bliebt fast unbemerkt. Im Fernsehsender Moskwa 24 sagte sie: "Ich bin gegen diese Proteste. Ich möchte keine Konflikte zwischen den Nationalitäten entzünden."

Derweil werden neue Konflikte befürchtet. An diesem Dienstag beginnt das Islamische Opferfest. In den vergangenen Jahren hatte dabei fast eine Million Muslime auf Moskaus Straßen gebetet.

© SZ vom 15.10.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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