Kevin-Prozess:Zwischen Aktendeckeln verloren

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Die kriminelle Energie des Vaters vermischte sich mit Versäumnissen des unterbesetzten Jugendamts.

Ralf Wiegand

Es ist ein eher zufälliges zeitliches Zusammentreffen, eine Gemeinheit des aktuellen Geschehens, das einen Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen herstellt, die auf den ersten Blick gar nicht zusammengehören. Hier die Sparbeschlüsse der Berliner Koalition, die den Sozialstaat verändern werden, wie auch immer.

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Amtsvormund des kleinen Kevin fahrlässige Tötung durch Unterlassen vor. (Foto: ap)

Sicher ist: Mehr Geld wird es nicht geben für die Ärmsten und Schwächsten der Gesellschaft. Und dort, in der kleinen Hansestadt Bremen, beginnt gleichzeitig eine Gerichtsverhandlung, in der geklärt werden soll, ob ein Sozialarbeiter vom Jugendamt mitschuldig ist am grausamen Tod von Kevin. Dessen Leiche war im Oktober 2006 im Kühlschrank seines Ziehvaters gefunden worden. Der Staat hatte den zweijährigen Jungen nicht beschützen können, obwohl er ihn seinen Sozialsystemen anvertraut und ihm einen Amtsvormund gestellt hatte.

Sicherheit für Kinder kostet Geld. Das Land Bremen, dessen Haushaltsnot noch größer ist als die des Bundes, hat gerade ausgerechnet, dass wohl im laufenden Haushalt 20 Millionen Euro zu wenig für den Posten "Kindeswohl" eingestellt worden sind. In der Hansestadt, für die der Tod Kevins auch dreieieinhalb Jahre danach noch ein traumatisches Ereignis darstellt, sind die Fallzahlen der "Inobhutnahme" von Kindern und Jugendlichen in die Höhe geschossen, seitdem sich die Stadt vorgenommen hat, dass sich ein Fall Kevin nie wiederholen dürfe. Das Sozialressort weiß sich zur Begrenzung der Ausgaben nur so zu behelfen, dass es empfiehlt, die "Verweildauer" in öffentlichen Einrichtungen zu verkürzen und den Grundsatz "ambulant vor stationär" zu beherzigen.

Die Mechanismen, denen Kevin in Bremen einst zum Opfer gefallen ist, sind also immer noch die gleichen. Auch damals herrschte in den Stuben der Jugendämter ein Spardruck sondergleichen, der die Sachbearbeiter anhielt, die teure Unterbringung von Kindern in Heimen zu vermeiden, wo es geht. Damals, so berichtet der jetzt wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen angeklagte Sachbearbeiter, habe er als Amtsvormund 250 Fälle betreuen müssen.

Nicht hinter jedem dieser Fälle stand ein gefährdetes Kinderleben; aber das eine gefährdete Leben zu erkennen, war ihm offenbar unmöglich. Klagen über Arbeitsüberlastung seien als Genöle zurückgewiesen worden. Heute, nachdem der Bereich mit mehr Geld ausgestattet worden ist, kommen in Bremen nur noch 90 Fälle durchschnittlich auf einen Amtsvormund. Es ist leicht, auf diesem Feld mit relativ wenig Geld sehr viel zu bewirken.

Und es ist noch leichter, durch den Abzug von Geld ungeheuer viel zu zerstören. Sparen am Sozialstaat heißt nicht nur, denen, die relativ sicher sind, ein bisschen von dieser Sicherheit zu nehmen. Sparen am Sozialetat heißt vor allem, an den brüchigen Rändern der Gesellschaft mit schwerem Gerät zu hantieren. Natürlich ist der Fall Kevin einzigartig, es vermischen sich hier die kriminelle Energie eines nicht mehr in die Gesellschaft zu integrierenden Vaters mit den Versäumnissen eines überforderten, weil unterbesetzten Amtes.

Aber trotz dieser Einmaligkeit belegt er doch eindrucksvoll, wer letztlich den Kürzeren zieht, wenn die Sozialsysteme einmal komplett versagen: immer die Kleinsten, Schwächsten, Ärmsten. Schwächer und kleiner als der zwischen Aktendeckeln verlorene Kevin kann man gar nicht sein.

In Bremen steht zwar ein 67-jähriger Rentner vor Gericht, der wiederum stellvertretend für ein System des kostensenkenden Verwaltens von Fällen steht, anstatt für das teure Kümmern. Angeklagt aber ist letztlich die ganze Gesellschaft, die aus diesem Prozess hoffentlich lernen kann, was ein Sozialstaat als Minimum leisten muss. Er muss seine Mitarbeiter in die Lage versetzen, sich um die Kleinen und Schwachen angemessen kümmern zu können. Diese Botschaft geht aus Bremen auch nach Berlin.

© SZ vom 09.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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