Proteste in der Ukraine:Land der Bitterkeit

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Demonstranten stehen auf einer Barrikade in Kiew. (Foto: dpa)

Die Ukraine ist kein gespaltenes, auseinanderfallendes Land - nicht in Ost und West, nicht in prowestlich und prorussisch. Aber es könnte auseinanderfallen, wenn eine Forderung der Demonstranten nicht erfüllt wird.

Ein Kommentar von Cathrin Kahlweit

Die nachvollziehbare Erleichterung ist verfrüht, die jetzt allenthalben ausbricht in Europas Hauptstädten und bei besorgten Beobachtern: Ja, das ukrainische Parlament hat mit großer Mehrheit die undemokratischen Gesetze wieder abgeschafft, die es - mit den Stimmen der Regierungspartei und der Kommunisten - vor zwei Wochen beschlossen hatte. Aber die Opposition ist weiter auf der Hut, sie will mehr. Denn sie weiß: Es reicht nicht, die Regierung auszuwechseln, wenn die Spielregeln gleich bleiben.

Der Premier ist zurückgetreten, aber der Präsident ist noch im Amt. Die Amnestie für friedliche Demonstranten ist auf dem Tisch, aber nur, wenn Zehntausende auch nach Hause gehen. Tun sie das nicht, wird weiter mit dem Ausnahmezustand gedroht. Hardliner in den Regionen, im Präsidialamt, bei Polizei und Armee wollen, dass Schluss ist mit der Verbeugung vor "Extremisten" und "Kriminellen". Vor allem aber: Eine neue Regierung wäre nach wie vor abhängig von Präsident Viktor Janukowitsch. Und der wäre nach wie vor abhängig von Wladimir Putin.

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Deshalb ist die Tonlage in ukrainischen Medien auch alles andere als euphorisch; sie ist ein Spiegel des Misstrauens, der das Land überzieht wie ein giftiger Pilz. Es überwiegt: eine Mischung aus Sachlichkeit, Skepsis und Depression.

Die Annäherung dieses 28. Januar, heißt es, die nach zweimonatigen, zunehmend erbittert geführten Auseinandersetzungen zwischen dem Euromaidan, seiner politischen Vertretung und der Mannschaft des Präsidenten zustande kam, sei unbedingt ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Aber das Vorgehen der "Macht" habe gezeigt, dass sie ihre eigenen Interessen verfolge, und nicht die des Volkes. Dass man ihr nicht trauen könne, dass sie sich mit Zugeständnissen über die Zeit retten wolle.

So macht eine der wichtigsten regierungskritischen Zeitungen an dem Tag, an dem die weltweit beachtete, historisch genannte Sondersitzung des Parlaments stattfindet, nicht etwa auf mit einer Nachricht über eine mögliche Einigung in Kiew, die dazu beitragen könnte, weiteres Blutvergießen zu vermeiden; sondern mit einem investigativen Bericht darüber, wo der scheidende Premier im Ausland sein Geld versteckt hat. Das soll zeigen: Dieses Land wird nach wie vor geführt von Kleptokraten, von korrupten, machtgierigen Politikern. Ein Zugehen auf diese Leute darf kein Kuhhandel sein.

Eine große Bitterkeit liegt über dem Land. Zu viel ist geschehen, seit Janukowitsch in einigermaßen demokratischen Wahlen an die Macht gekommen ist: maßlose Bereicherung, die Abschaffung der liberaleren, früheren Verfassung, die Verfolgung von Regierungskritikern, Homosexuellen, Journalisten.

Bei alledem war die Ukraine immer noch ein freieres Land als der große Bruder Russland. Und die Bürger, auch die Moskaufreunde unter ihnen, setzten darauf, dass das so bleiben würde. Sogar im ukrainischen Osten waren die Wähler der Partei der Regionen zufrieden, in einem Staat zu leben, der sich ökonomisch emanzipieren und auch von der EU profitieren wollte - selbst wenn dieselben Wähler Linke, Hippies und Schwule verachteten.

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Doch das Versprechen, die Ukraine in ihrem politischen Status Quo zu belassen, hat der Präsident mit seiner Politik zuletzt verraten. Sein Kotau vor dem russischen Präsidenten, der vor dem Gipfel von Vilnius mal eben gezeigt hat, wer wirklich das Sagen hat im Präsidentenpalast in Kiew - er hat Entsetzen in der Ukraine ausgelöst. Das sollte also das Land sein, das seit 1991 formal unabhängig ist? Das sollte das Land sein, das sich aus der jahrhundertelangen Umklammerung eines autokratischen Systems befreit zu haben meinte? Die Machtverhältnisse sind erkennbar andere auf dem Papier als in der Realität.

So fragen sich jene Ukrainer, die auf dem Kiewer Maidan und in den zahlreichen Protestcamps des Landes für Pluralismus und gegen Korruption kämpfen, ob es eine Garantie dafür gibt, dass das Parlament nicht demnächst wieder unter Missachtung aller demokratischer Regeln neue, repressive Gesetze beschließt, sobald der Druck der Straße nachgelassen hat. Und dass diejenigen, die jetzt nicht nach Hause gehen, das nicht mit ihrem Blut büßen müssen. So groß ist das Misstrauen, dass fast jeder Kompromiss ihnen als vergiftet gelten muss.

Die Ukraine ist kein gespaltenes, auseinanderfallendes Land - nicht in Ost und West, nicht in prowestlich und prorussisch. Aber es könnte auseinanderfallen, wenn eine Forderung der Demonstranten nicht erfüllt wird. Dass die bestraft werden, die für die Staatskrise verantwortlich sind. Nur: Wer das ist - darüber gibt es keine Einigkeit in der Ukraine.

© SZ vom 29.01.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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