Proteste gegen Gaddafi:Libyen - Europas Nachbar

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Weil Gaddafi auf seine Bürger schießen lässt, ist Libyen zur entscheidenden Bewährungsprobe für die europäische Außenpolitik geworden. Denn das Land ist für Europa mehr als nur Energielieferant oder Bollwerk gegen Flüchtlinge.

Martin Winter

Die Zeit der Leisetreterei ist vorbei. In Libyen führt Oberst Muammar al-Gaddafi Krieg gegen das eigenes Volk. Anfang der Woche hatte die Europäische Union ihn aufgefordert, von Gewalt abzusehen und friedlich mit der Opposition zu sprechen. Im Lichte der Kämpfe in libyschen Städten und des von Wahnsinn gezeichneten Auftritts Gaddafis muss Europa sich aber von der Rolle des sanften Mahners verabschieden. Niemand kann noch erwarten, dass der Mann zur Vernunft zurückkehrt, wo er doch auf den Trümmern seines Landes und auf den Gräbern seiner Landsleute den Märtyrertod sucht. Selbst Sanktionen - Einreiseverbote oder die Sperrung der Vermögen - gehen inzwischen ins Leere.

Auch in Berlin wird gegen Gaddafi demonstriert. In Libyen ist die Hoffnung der Europäer auf einen sanften Übergang in Nordafrika zerschossen worden. (Foto: Getty Images)

Niemand weiß, was aus Libyen wird; ob es auseinanderbricht, ob es zusammenhält, und wer es regieren wird. Eines aber ist sicher: Selbst wenn Gaddafi sich an der Macht hält, er wird der Paria der internationalen Gemeinschaft sein. Niemand wird mehr mit ihm verhandeln, Verträge schließen, ihn einladen, ihm die Hand schütteln und sich mit ihm ablichten lassen. Mit den Luftangriffen auf Demonstranten hat Gaddafi sich selber erledigt. Da kann er noch so sehr am Ölhahn drehen. Der Preis - politisches Wohlwollen gegen Nachschub an Öl und Gas - ist im Falle Libyens zu hoch geworden, als dass ihn irgendein westlicher Politiker noch zahlen könnte.

In Tunesien und Ägypten hat die Europäische Union nach kurzem Zögern gerade noch die Kurve gekriegt. Das war freilich auch relativ leicht, weil beide Länder sich mehr oder minder friedlich auf den Weg zur Demokratie gemacht haben. Die Hilfe, mit der die Europäer nun den Weg dieser Länder begleiten wollen, ist gewiss gutgemeint. Aber die EU verkennt die Dimension der Aufgabe, wenn sie glaubt, sie könne das übliche Paket aus Demokratiekursen, wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Anti-Korruptions-Programmen schnüren. Das ist nicht angemessen, um auf die tektonischen Verschiebungen in Nordafrika und in der arabischen Welt zu reagieren.

In Libyen ist die Hoffnung der Europäer auf einen sanften Übergang in Nordafrika zerschossen worden. Wenn sich die EU jetzt weiterhin vom italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi bremsen lässt, der sich in einer seltsamen Mischung aus Zuneigung zu Gaddafi und Panik vor Flüchtlingen aus Afrika an die vermeintlich stabilen, alten Verhältnisse im südlichen Mittelmeer zu klammern sucht, dann schadet das den europäischen Interessen.

Es wäre nun die Stunde der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton, der EU eine mutige und weitsichtige neue Strategie für den Mittelmeerraum vorzuschlagen. Es gibt keinen Zweifel, dass es zu einer Katastrophe für Europa führen kann, wenn die EU ihr altes Übel pflegt und sich wieder einmal außenpolitisch am kleinsten gemeinsamen Nenner orientiert.

Denn die südlichen Anrainer des Mittelmeeres sind für Europa mehr als nur Energielieferanten, Bollwerke gegen Flüchtlinge oder touristische Ziele. Sie sind Nachbarn, und Europa kann nicht in Frieden leben, wenn diese Staaten unter sozialer Not und politischem Elend leiden. Vielmehr muss Europa in dieser Region auch seine Chancen erkennen: Hier kann nicht nur Sonnenenergie gewonnen werden, hier finden sich vor allem alte Kulturen und junge Gesellschaften, die Europa vor dem Vergreisen bewahren können.

Weil Gaddafi auf seine Bürger schießen lässt, ist Libyen zur entscheidenden Bewährungsprobe für die europäische Außenpolitik geworden. Wenn die EU nun ausweicht, dann gibt sie ihren Anspruch auf, in der eigenen Nachbarschaft eine Rolle zu spielen. Existenzielle europäische Interessen wären nachhaltig beschädigt. Und wer glaubt, die Flüchtlingsströme (von denen keiner wirklich weiß, ob sie kommen und wie mächtig sie sein werden) dadurch stoppen zu können, dass er an alten Verabredungen mit Gaddafi festhält, der ist bereits jetzt seiner Zeit entrückt. Ein friedliches, stabiles und prosperierendes Nordafrika ist der einzige Schutz gegen illegale Zuwanderung aus dem Süden.

Europa muss jetzt zweierlei tun: Erstens muss es ein klares politisches Signal gegen Gaddafi und gegen die Despotie geben. So wenig Sanktionen Gaddafi beeindrucken werden, so groß ist jedoch ihre symbolische Kraft. Sie müssen sofort beschlossen werden. Zweitens muss Europa glaubhaft drohen. Am besten, indem es eine Koalition mit der Arabischen Liga, Ägypten und der Afrikanischen Union eingeht. Einer Koalition, die - ausgestattet mit einem Mandat der UN - in Libyen auch militärisch zur Wiederherstellung des Friedens eingreifen kann. Das wäre möglicherweise die einzige Drohung, die Gaddafis noch verbliebene Anhängerschaft zur Abkehr vom Diktator bewegen kann. Allein die Vorbereitung eines internationalen Einsatzes könnte ihn am Ende überflüssig machen.

Eines aber darf Europa auf keinen Fall tun: abwarten. Ein Libyen, das zerbricht und in einem Bürger- und Stammeskrieg versinkt, kann die ganze Region in Brand setzen. Seit den Kriegen auf dem Balkan wissen die Europäer um den Wert des frühen Eingreifens. Damals haben sie den Zeitpunkt verpasst. In Nordafrika sollten sie diesen Fehler nicht wiederholen.

© SZ vom 24.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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