Professionelle Zocker:Schieß nur!

Lesezeit: 5 min

Sie ballern herum, verwandeln sich in Trolle oder Magier - warum Kämpfe am Computer inzwischen zu sportlichen Großveranstaltungen geworden sind und die Spieler ein Millionenpublikum erreichen.

Von David Pfeifer

Was tun, wenn der eigene Nachwuchs täglich Stunden vor dem Computer zubringt und dabei Freunden und Mitspielern in den Kopf schießt, sie in die Luft sprengt oder mit dem Flammenwerfer verkohlt? Man kann das Kind an die Sonne zerren - oder gleich zum Therapeuten. Man kann es aber auch einfach weiterspielen lassen. Für Letzteres gibt es durchaus Argumente. Der Nerd von heute könnte der Olympionike von morgen sein, zum Beispiel. Bereits jetzt verdienen Spieler, die beim sogenannten "E-Sport" zu den Top-Leuten gehören, viel Geld.

Als "elektronischer Sport" werden Online-Spiele, die in Ligen organisiert sind, bezeichnet. Dass dieser Begriff auf einmal auch in jenen Bevölkerungskreisen bekannt wird, die sonst eher die Sorge umtreibt, dass die jungen Leute vor dem Bildschirm verblöden, hat mindestens zwei Gründe: Erstens hat Angela Merkel in dieser Woche als erste Bundeskanzlerin die besucherstarke Computerspiel-Messe Gamescom eröffnet. Merkel, die noch vor vier Jahren viel Spott auf sich zog, als sie sagte, "das Internet ist für uns alle Neuland", machte das aus Kalkül. Denn seltsamerweise tut sich Deutschland, das so stolz auf seine Ingenieurs-Tradition ist, schwer mit der technischen Entwicklung im Informationszeitalter. Das soll sich ändern, auch wenn es sein könnte, dass ein Teil der Zukunft bereits in der Vergangenheit verpasst wurde.

E-Sportler sehen mitunter aus wie Hipster - durchtrainiert und physisch topfit

Zweitens wechselte der E-Sportler Cihan Yasarlar, einer der besten Online-Fußballspieler, vom FC Schalke zu RB Leipzig - und das war keineswegs nur eine Nachricht für Insider. In den Marketingabteilungen der deutschen Fußballvereine hat man früher als im Kanzleramt begriffen, welche Welt sich mit vernetzten Spielen eröffnet (siehe nebenstehender Bericht). Yasarlar selber sieht aus wie ein Hipster. Sportlich, getrimmter Bart. Das Klischee des Nerds bedienen E-Sportler generell eher nicht, sie sollten physisch fit sein, sonst könnten sie die Konzentration nicht lange halten. Auch Schach-Weltmeister Magnus Carlsen trainiert schließlich seine Kondition, um am Brett leistungsfähiger zu sein.

Meepo, Earth Spirit, Juggernaut – so heißen Figuren im zur Zeit erfolgreichsten E-Sport- Spiel „Dota 2“. In Seattle sahen kürzlich 15 000 Menschen einem Turnier zu. (Foto: DOTA, Collage: SZ)

E-Spieler ernähren sich wie Spitzensportler, trainieren viele Stunden und erledigen ihre Arbeit mit den Reaktionszeiten und der Nervenstärke von Kampfjetpiloten. Laut einer neuen Studie der US-Armee sind sie als Drohnen-Lenker besser geeignet als echte Piloten, da sie nicht am aufgepumpten Ego leiden, das eine macho-militärische Ausbildung leicht erzeugt.

Deutschland ist zwar Entwicklungsland, was das Programmieren von erfolgreichen Videospielen angeht - aber ein großer Absatz- und Spielermarkt. Wobei der Bereich Fußball in Deutschland groß, international aber eher klein ist. Die eingangs erwähnten Ballerspiele und vor allem Fantasy-Strategiespiele sind wesentlich bedeutender. Und die stärksten, nun ja, Athleten stammen aus China, Südkorea und den USA. Deutschland rangiert auf Rang neun.

Die derzeit populärste Spielewelt heißt "Dota 2", sie ist bevölkert von Trollen, Magiern und Kriegern. Das Spiel wirkt wie eine Mischung aus virtuellem Räuber-und-Gendarm-Spiel und "Herr der Ringe" in Echtzeit. Eine Mannschaft aus fünf Spielern muss einen Helden durch Prüfungen und Kämpfe immer stärker machen, um am Ende ein Turnier zu gewinnen. Teamwork, Intelligenz, Denkgeschwindigkeit und tiefe Kenntnis der "Dota"-Mechanik sind Grundvoraussetzungen, um in dieser Welt zu bestehen.

Dieses Jahr wurde auf einem Dota-2-Turnier in Seattle vor 15 000 Zuschauern gespielt - bei Ticketpreisen von 200 Dollar. Die Sieger-Mannschaft "Team Liquid" gewann elf Millionen Dollar Preisgeld. Auch der Berliner Kuro Salehi Takhasomi, 24 Jahre alt, gehört diesem Team an. Er gilt derzeit als bestverdienender deutscher E-Sportler; er hat mehr als drei Millionen US-Dollar an Preisgeldern errungen.

Eltern neigen dazu, die Bildschirmzeit ihrer daddelbegeisterten Kinder zu begrenzen. Eine halbe Stunde, vielleicht eine Stunde - das sorgt für Krach und zeugt von Unkenntnis, denn die Spiele sind heute so angelegt, dass sie ihre Qualitäten erst mit einer gewissen Verweildauer entfalten, "Dota" dagegen zu beherrschen, setzt intensive Beschäftigung voraus. Vereinsamen können die Kinder dabei nicht, eher im Gegenteil: die Möglichkeit, mit Freunden zu spielen, erzeugt Gemeinschaftsgefühl und manchmal sogar Gruppendruck. Wer sich im virtuellen Gefecht befindet, kann nicht einfach in die Runde rufen, "ich muss zum Abendessen!" Häufig leben Mitstreiter in anderen Zeitzonen.

Das kann indes durchaus süchtig machen. Das Belohnungsprinzip von Videospielen funktioniert wie beim Zigarettenkonsum: Mit jedem erreichten Level wird Dopamin ausgeschüttet, das einen Glückskick erzeugt. Nach diesem Kick sehnt man sich, häufig in kürzer werdenden Abständen, wie nach dem Genuss von Nikotin, Koffein, Alkohol oder Zucker. Verboten sind diese Substanzen deswegen nicht.

Als erstes Online-Mehrpersonen-Spiel gilt "Modern Wars" aus dem Jahr 1988. Ein strategisches Kriegsspiel, das sich in Deutschland nicht durchsetzen konnte, vor allem weil noch die Post das Monopol über die Endgeräte besaß und die Verbindungsgebühren für die Spieler unverhältnismäßig hoch ausfielen. Erst mit Ego-Shooter-Spielen wie "Counter-Strike", bei denen man in lokalen Netzwerken gegeneinander antreten konnte, wurden Multiplayer-Games auch hierzulande populär.

SZ Sonderpublikation "Games Guide"

1 / 1
(Foto: N/A)

Alles zum Phänomen Videospiele: Anlässlich der Spielemesse Gamescom in Köln bündelt die Süddeutsche Zeitung Rezensionen, Interviews und Essays zum Thema Gaming in einer Sonderausgabe. Zu finden im Kiosk der SZ-App sowie unter zeitung.sz.de.

In den späten 1990er-Jahren trafen sich die Kontrahenten dann zu sogenannten "LAN-Partys" (Local Area Network), die auf Außenstehende wirkten, als habe man eine "Weight Watchers"-Selbsthilfegruppe und einen Informatiker-Stammtisch an einem Wochenende in einer Halle zusammengepfercht. Die blasshäutigen Spieler, in der Mehrzahl junge Männer, stöpselten ihre Computer zusammen und schliefen unter ihren mit Equipment vollgestellten Campingtischen zwischen Colaflaschen und Pizzaschachteln, wenn sie erschöpft davon waren, sich gegenseitig abzuknallen. Aus dieser Zeit stammt das Klischee des schweißfingrigen, ungewaschenen Gamers in Deutschland. In den USA machte indes der Medientheoretiker Steven Johnson schon vor Jahren ein Gedankenexperiment: Was, wenn das Buch nach dem Fernsehen und den Videospielen erfunden worden wäre? Was hätten die Eltern gesagt? Vermutlich, dass die Jugendlichen sich durch Lesen isolieren, dass sie in Fantasiewelten flüchten und nicht mehr zugänglich sind, weil sie ihre Nase andauernd in einen Roman stecken. Tatsächlich schrieb der Theologe Johann Gottfried Hocke im Jahr 1794: "Die Lesesucht ist ein thörichter, schädlicher Missbrauch einer sonst guten Sache." Man muss nur Lesen durch Computerspiel ersetzen.

Bei den Asienspielen 2022 werden E-Sports erstmals im Wettbewerb zugelassen

Als 2009 bekannt wurde, dass der jugendliche Amokläufer von Winnenden ausgiebig "Counter-Strike" gespielt hatte, konzentrierte sich die Diskussion schnell auf Online-Ego-Shooter als Auslöser für Gewalttaten. Zu diesem Zeitpunkt waren diese Spiele allerdings schon so weit verbreitet, dass sich statistisch eine Kausalität nicht mehr belegen ließ. Bis heute ist die Forschung in dem Bereich im Konjunktiv stecken geblieben, also auf dem Stand, dass exzessive gespielte Ego-Shooter bei Tätern gefährliche Impulse setzen könnten - genau wie Horrorfilme, Isolation in der Schule und Vernachlässigung durch die Eltern. Und 99 Prozent der Online-Spieler werden sozial nicht auffällig.

Im asiatischen Raum, wo Online-Spiele wie auch Horrorfilme viel eher zum geduldeten Medienkonsum von Jugendlichen gehören, kommt es nicht zu gehäuften Gewalttaten. Im Gegenteil. Bei den Asian Games, der weltweit zweitgrößten Sportveranstaltung nach den Olympischen Spielen, werden E-Sports 2022 erstmals im Wettbewerb zugelassen sein. Die Electronic Sports League (ESL) bemüht sich, olympisch zu werden. Die Wettbewerbe der ESL wurden im Jahr 2016 von 172 Millionen Menschen verfolgt, per Livestream oder auf Veranstaltungen. Die Streaming-Plattform Twitch, spezialisiert auf die Übertragung von E-Sport-Ereignissen, wurde bereits 2014 für eine Milliarde US-Dollar von Amazon gekauft. Und weil beim Olympischen Komitee der sportliche Aspekt immer wieder mal hinter der Popularität der Wettbewerbe zurückstecken muss, dürften die Chancen für die E-Sportler also gar nicht so schlecht stehen.

© SZ vom 26.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: