Problem mit Bürgerrechten:Abhörrepublik Türkei

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In der Türkei werden jährlich 70.000 Bürger belauscht - unter ihnen Richter, Abgeordnete, Staatsanwälte und sogar der Premierminister.

Kai Strittmatter, Istanbul

Man trifft hier Journalisten, die bei jedem wichtigen Treffen das Handy ausschalten. Das, sagen Experten, reiche jedoch nicht: Auch über das ausgeschaltete Handy kann ein Profi mitlauschen. Der Istanbuler Krämer, der dem Lehrling das Handy in die Hand drückt und ihn aus dem Laden schickt, bevor er über die Politik schimpft, ist da schon klüger.

Unsicherheitsfaktor Telefon: Viele Türken haben inzwischen Angst davor, vom Geheimdienst belauscht zu werden. (Foto: Foto: Reuters)

Ebenfalls sicher ist die Methode, die der deutsche Diplomat aus Ankara empfiehlt: Einfach den Akku rausnehmen. Aber warum das alles? Weil, so sieht das zum Beispiel die Zeitung Hürriyet, das Land sich in "ein Land der Riesenohren" verwandelt habe: "Willkommen in der Abhörrepublik Türkei."

Der lockere Umgang der Türkei mit der Privatsphäre ihrer Bürger ist nichts Neues, doch haben die Ereignisse der letzten Woche neues Feuer in der Debatte entfacht. Da nämlich kam heraus, dass die Richter des Obersten Berufungsgerichts abgehört wurden. Außerdem ein Richter, der Staatspräsident Abdullah Gül - wohl zu Unrecht - einen Korruptionsprozess anhängen wollte.

Und zu guter Letzt der Oberste Staatsanwalt von Istanbul. Hinter den Abhöraktionen steckten Inspektoren des Justizministeriums, die in Sachen "Ergenekon" ermittelten. Das Verfahren ist ein Jahrhundertprozess, in dem einem Netzwerk von Putschisten und ultranationalistischen Verschwörern der Garaus gemacht werden soll. Die Lauscher flogen auf, als sie in einem Antrag ans Istanbuler 11. Strafgericht darum baten, die Abhörerlaubnis für weitere drei Monate zu verlängern.

Für die Opposition waren die Enthüllungen ein gefundenes Fressen: Sie versucht ohnehin, die Ergenekon-Ermittlungen als Rachefeldzug der Regierung gegen ihre Kritiker zu diskreditieren, was ihr nicht leicht fällt, seit sogar der ehemalige Generalstabschef Hilmi Özkök über Möchtegern-Putschisten in den Reihen der Armee ausgesagt hat. Die Abhörenthüllungen aber bringen die Regierung nun in Verlegenheit, zumal die erste Verteidigung recht schwach war: Der Justizminister sagte, seine Beamten hätten sich schließlich einen Gerichtsbeschluss geholt. Aber darf ein einfaches Istanbuler Gericht wirklich das Abhören der Obersten Richter in Ankara anordnen? Ebenso dürftig der Einwurf von Fethi Simsek, dem Chef der Telekommunikationsbehörde: Ja, man habe die Telefonanlage im Obersten Gericht angezapft, aber es bestehe kein Grund zur Beunruhigung - ein "technischer Fehler" habe verhindert, dass wirklich abgehört wurde.

"So weit ist es gekommen"

Am Montag schließlich stieg Premier Tayyip Erdogan in den Ring, nicht zuletzt, weil es Gerüchte gibt, dass seine Gegenspieler wieder Material sammeln für ein mögliches Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei AKP. Er beteuerte erstens, seine Regierung habe stets "im Rahmen des Gesetzes" gehandelt und gab zweitens bekannt, dass er selbst die letzten sechs Jahre lang abgehört wurde.

Tatsächlich hat die Polizei vor wenigen Wochen in den Büroräumen der linksnationalistischen Zeitschrift Aydinlik einen ganzen Stapel von Abhörprotokollen gefunden, darunter Gespräche des Premiers und anderer Kabinettsmitglieder. Der Chefredakteur von Aydinlik wurde daraufhin von den Ergenekon-Ermittlern festgenommen. "So weit ist es gekommen", sagte der ehemalige Staatspräsident Süleyman Demirel: "Jede Institution des Staates hört jede andere ab."

"Die Öffentlichkeit ist nervös und unsicher", sagte Justizminister Mehmet Ali Sahin schon im März dem Sender NTV. Er sprach über die Tatsache, dass Schauspieler, Politiker oder Geschäftsleute ständig damit rechnen müssen, Abhörprotokolle ihrer Gespräche in der Presse zu lesen. "Ich glaube nicht, dass irgendein Gericht bei diesen Leuten das Abhören genehmigt hat", sagte der Minister. Die Regierung will nun die Strafen für illegales Abhören verschärfen.

"Was für eine Schande"

Die Wellen, die der neue Skandal schlägt, zeigen, dass viele Bürger ebenso beunruhigt, was legal geschieht. "Die Türkei hat noch immer ein Problem mit Bürgerrechten", sagt Öztürk Türkdogan vom Menschenrechtsverein IHD in Ankara: "Eigentlich sollte man nur in Ausnahmefällen und bei starkem Verdacht abhören. Hier aber ist Abhören Alltag." Justizminister Sahin sagt, in der Türkei würden im Jahr 70000 Telefone abgehört, bei 72 Millionen Einwohnern sei das "europäischer Standard". Die Behauptung ist falsch: In Deutschland wurde 2008 16500 Mal abgehört. Und erst im vergangenen Jahr hatte die Türken die Enthüllung erschüttert, dass gleich drei Geheimdienste die offizielle Befugnis hatten, sämtliche Kommunikation und jeden Bürger im Land flächendeckend abzuhören, ohne sich dafür im Einzelfall eine richterliche Erlaubnis holen zu müssen - das 11. Strafgericht in Ankara erteilte den Lauschern alle drei Monate einen Blankoscheck für die nächsten Monate.

"Was für eine Schande", empört sich nun Expräsident Demirel: "Die Türken haben nun Angst vor dem Gebrauch einer der zivilisatorischen Errungenschaften der Welt, dem Telefon." In der Zeitung Milliyet zuckt der Kolumnist Hasan Pulur derweil mit den Schultern: "In unserem Land werden die Telefone doch seit 1000 Jahren abgehört", schreibt er: Dann erinnert er an die Zeit, da der heute so empörte Demirel selbst in den 60er Jahren Premierminister war. Damals ist seinem Innenminister Faruk Sükan der Satz rausgerutscht: Wir hören die Linken sogar schnaufen."

© SZ vom 18.11.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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