Portugal:Der letzte Sozi

Der portugiesische Regierungschef António Costa hat etwas gewagt, was sich die deutschen Sozialdemokraten nie getraut haben: Er schmiedete ein Linksbündnis - und hat Erfolg damit.

Von Sebastian Schoepp, Lissabon

Das Krankenhaus Santa Maria in Lissabon ist ein riesiger grauer Kasten aus der Ära des faschistischen Diktators Salazar, der Portugal im 20. Jahrhundert jahrzehntelang regierte. Miguel Vieira Branco Szymanski bringt hier einmal im Monat seine Tochter hin, die an einer Darmkrankheit leidet, sie bekommt dann vier Stunden lang Infusionen. Heute ist es wieder so weit, die Zehnjährige ist trotz des bevorstehenden Nadelstiches tapfer und lebhaft, sie erzählt dem Besucher gern vom Vormittag am Strand. Doch die Wartezeit zieht sich, stundenlang, da hilft es auch nichts, dass die Kinderstation in freundlichen Farben gestaltet ist, die im Kontrast zum Grau des Gebäudes stehen.

Aber immerhin, man bekommt einen Termin: "Wenn es um Kinder geht, scheuen sie vor Einsparungen noch zurück", sagt Miguel Szymanski, der als Buchautor und Analyst Portugals Leidensweg während der vergangenen Jahre eindringlich beschrieben hat. Der 52-jährige Deutschportugiese hat dieses Leiden am eigenen Leib erfahren - etwa im steuerfinanzierten Gesundheitssystem: für Erwachsene sind 22 Stunden Wartezeit in der Notaufnahme normal. Termin beim Hautarzt? 2019. Kürzlich räumte der zuständige Staatssekretär ein: Das sei unzumutbar. Aus Protest gegen die Sparpolitik will der Gesundheitssektor im Mai sechs Tage lang streiken.

Die strengen Sparmaßnahmen wurden Portugal als Bedingung für den 78-Milliarden-Kredit der EU und des IWF auferlegt, der das Land 2011 vor der Pleite bewahrte. Unter dem konservativen Premierminister Pedro Passos Coelho galt das Land als Sparmusterschüler, was sich vor allem im sozialen Sektor bemerkbar machte. Doch seit 2015 regiert der Sozialist António Costa, und Portugal rückt ab vom strangulierenden Sparen. "Wir wollen zeigen, dass es eine Alternative gibt zur Alternativlosigkeit", sagte Costa kürzlich dem Economist. Gehalts- und Pensionskürzungen wurden zurückgenommen, der Mindestlohn angehoben, gestrichene Feiertage wieder eingeführt. Und trotz dieses Anspruchs, die Avantgarde der Anti-Austeritäts-Politik zu sein, sei Portugal ein "bond-market-darling", schreibt der Economist anerkennend. Die Arbeitslosigkeit ist rückläufig. Das Wachstum zieht an, die Menschen schöpfen ein wenig Zuversicht.

Der Sexappeal der Regierung Costa rührt nicht zuletzt daher, dass der Premier sich etwas traut: "Er hat politischen Mut und eine strategische Perspektive, die es ihm ermöglicht, Mut zu haben", sagt Reinhard Naumann, der seit 1991 in Portugal lebt und das Lissabonner Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung leitet. In einer SPD-nahen Stiftung kommt Costa naturgemäß gut an, denn der portugiesische Regierungschef ist gewissermaßen die letzte Hoffnung der europäischen Sozis. Nur Portugal und Schweden sind übrig geblieben im Lager der westeuropäischen Länder mit sozialdemokratisch geführter Regierung. Was in Portugal anders läuft? Entgegen dem Trend versucht Regierungschef Costa es mit nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik, die den Konsumenten stärkt und nicht den Produzenten, wie es seit Margaret Thatcher und Ronald Reagan weltweit wirtschaftliches Dogma ist.

Dabei ging es der Sozialistischen Partei Portugals bis vor Kurzem nicht anders als den Genossen überall auf dem Kontinent. Bis 2011 regierte in Lissabon der Sozialist José Socrates. Seine Regierung stimmte 2011 den von der EU geforderten Sparmaßnahmen zu, danach trat Socrates ab, später wurde er wegen Korruption angeklagt. Das riss die Partei in den Abgrund. Die Zustimmung zu Austeritätsprogrammen war sozusagen das Hartz IV der südeuropäischen Sozialdemokratie - in Portugal wie in Spanien, Griechenland und Italien.

Literaturnobelpreisträger José Saramago

"Europa weiß wohl, wo Portugal liegt, doch ich wage weiterhin zu bezweifeln, dass dieses Europa weiß, was Portugal ist."

Bei der Parlamentswahl 2011 feierten in Portugal die Konservativen folgerichtig einen Erdrutschsieg. Premier wurde Passos Coelho, der erklärte, er spare nicht, weil er müsse, sondern aus Überzeugung. Es begann der Ausverkauf Portugals im großen Stil: "Bis 2016 hat die konservative Regierung wie wild privatisiert", schreibt Miguel Syzmanski. "Der Staat verkaufte strategische Unternehmen und Beteiligungen im Eiltempo. Ausländische Investoren aus China und Angola kauften zu Ramschpreisen ein." Trotzdem sei der Schuldenberg größer als zuvor. Den größten Anteil am Energieversorger EDP kaufte die China Three Gorges Corporation - obwohl sich Kanzlerin Angela Merkel in Lissabon ganz patriotisch dafür starkgemacht hatte, Eon den Zuschlag zu geben.

Einsparungen bei den Gehältern lähmten die Haushalte, die Wirtschaft sprang nicht an, Depression machte sich breit, es gab Massendemonstrationen, 2012 gingen sogar Unternehmer auf die Straße, um gegen Einschnitte zu protestieren, die dazu führten, dass der Konsum praktisch zum Erliegen kam. Portugal drohte zum Armenhaus Europas zu werden - wie in den Sechzigerjahren. Hunderttausende wanderten aus, vor allem Qualifizierte. Auch die Verlagsbranche traf es hart, Miguel Szymanski, arbeitslos geworden, versuchte es notgedrungen mit seiner Familie in der Heimat seines Vaters, in Deutschland. Es war die bessere Alternative: "Frühere Kollegen fahren heute Tuk-Tuk-Taxi für die Touristen." Doch wie lange hält es jemand, der aus Lissabon kommt, bei einer Werbeagentur in Heidenheim aus, wo sich die Nachbarn beschweren, wenn Kinderschuhe im Treppenhaus stehen? Syzmanski hat ein bitteres Buch über seine Erfahrung geschrieben, es heißt "Ende der Fiesta, Südeuropas verlorene Jugend".

Seit zwei Jahren ist er zurück in Lissabon, möglich gemacht hat es unter anderem eine sehr portugiesische, weil familienbasierte Art des Überlebens: eine Erbschaft. Inzwischen läuft es aber auch beruflich wieder rund. Miguel Szymanski ist regelmäßiger Gast als Kommentator weltpolitischer Ereignisse im portugiesischen Fernsehen, er scheibt für die Tageszeitung Diario de Noticias, bei der einst Nobelpreisträger José Saramago Chefredakteur war.

Und auch politisch hat sich einiges verändert in seiner Heimat. Zwar wurde die konservative PSD von Pedro Passos Coelho bei der Wahl 2015 mit 36 Prozent wieder stärkste Partei, sie büßte jedoch elf Prozentpunkte ein, brauchte einen Partner. Doch die Sozialisten unter Costa weigerten sich, es ihren europäischen Kollegen gleichzutun und in eine große Koalition einzusteigen. Warum? "Große Koalitionen spielen den Populisten in die Hände", sagt António Costa im Economist. Obwohl seine Partei nur gut ein Drittel der Abgeordneten stellt, bildete er eine Regierung, die sich von einem bürgerlich-intellektuellen Linksbündnis und den Kommunisten tolerieren lässt. Costa tat also, was sich die deutschen Sozialdemokraten 2013 nicht trauten, als es immerhin die rechnerische Möglichkeit einer Koalition mit Linkspartei und Grünen gab.

Costa war schon als Bürgermeister von Lissabon ein Meister im Schmieden von Bündnissen. Trotzdem gaben die meisten Analysten seiner geringonça ("Klapperkiste") nur ein halbes Jahr. Nach drei Jahren funktioniert sie immer noch, würde jetzt gewählt werden, käme Costa auf 40 Prozent. Wobei er sich in alle Richtungen absichert. Kürzlich traf Costa sich mit dem konservativen Parteichef Rui Rio, was Miguel Szymanski als Vorzeichen deutet, Costa könnte bald den Partner wechseln.

Antonio Costa at the inauguration of Natixis Porto 07 03 2018 The Prime Minister Antonio Costa

„Große Koalitionen spielen den Populisten in die Hände“, sagt António Costa. Folgerichtig und erfolgreich führt er deshalb seit der Wahl 2015 die Minderheitsregierung in Portugal an.

(Foto: Pedro Granadeiro/imago)

Zumindest widerspricht Costas Wendigkeit und Initiativkraft dem Klischee, wonach Portugiesen besonders melancholische Menschen seien, die sich den lieben langen Tag lang der saudade verschreiben, also der vergangenen Größe nachtrauern. Portugal war das letzte europäische Land, das 1975 seine Kolonien aufgab. Menschen aus São Tomé, Macao, Mosambik oder Angola sind selbstverständlich integriert in die Gesellschaft, und das nicht nur als Maurer, Taxifahrer oder Kellner. Die Familie von Premier António Costa stammt aus der früheren Kolonie Goa in Indien, seine Vorfahren waren zum Katholizismus übergetretene Mitglieder indischer Brahmanen.

Heute haben sich die Kräfteverhältnisse zwischen früheren Kolonien und Mutterland in Teilen umgekehrt. Durch den Ölboom reich gewordene Angolaner ordern in Lissabonner Restaurants den besten Wein für 300 Euro und schütten Cola hinein - portugiesische Kellner erzählen solche Anekdoten. Portugal zieht reiche Neubürger an, Popstars, Banker, Ölbarone, Immobilienhaie, die mit goldenen Visa und Niedrigsteuern gelockt werden.

Selbst Popstar Madonna fand lange keine adäquate Wohnung, so überteuert sind Immobilien

Das hat die Immobilienpreise im Zentrum Lissabons hochgetrieben. Selbst Popstar Madonna brauchte eine Zeit lang, bis sie eine Wohnung im Stadtkern fand, die nicht völlig absurd überteuert war. Sie lebt jetzt im Palácio Ramalhete, einem Adelspalast aus dem 18. Jahrhundert, einst Schauplatz in der Literatur. Solche Verschiebungen haben dazu geführt, dass sich das althergebrachte portugiesische Leben in die Vorstädte zu verlagern beginnt, weg von der Touristenkulisse des Bairro Alto - wo Airbnb sich ausbreitet und ein Hilfsbuchhalter, wie ihn Fernando Pessoa Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieb, längst nicht mehr wohnen könnte.

Normale Portugiesen leben nun eben hier, sagt Miguel Szymanski auf der Fahrt durch die Vorstädte mit ihren Mietskasernen. Hier wohnen Menschen, die wie ein Viertel der Arbeitnehmer den Mindestlohn von 516 Euro netto verdienen. Das sind immerhin 7,5 Prozent mehr als 2016. Aber zum Leben immer noch zu wenig. Auch die Löhne sind erheblich niedriger als im europäischen Durchschnitt, deshalb folgen viele Geringverdiener, wie etwa Krankenschwestern, Jobangeboten im Ausland.

Portugal geht es etwas besser, ja. Doch Miguel Szymanski meint: "Trotz des Optimismus im Land und der Starqualitäten des jetzigen Premiers: Ohne einen Schuldenschnitt sind die nächsten Episoden der Krise, sobald die Konjunktur abflaut oder die Zinsen steigen, absehbar."

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