Polen:Richter im Visier

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Solidaritätskundgebung für Richter Igor Tuleya vor dem Obersten Gericht in Warschau Anfang Oktober. (Foto: Jakub Kaminski/imago)

Polens Justizminister will kriuristen anklagen lassen - die Vorwürfe erscheinen oft konstruiert. Der Bürgerrechtskommissar des Landes fällt ein eindeutiges Urteil: Er sieht eine Angeklagte als Opfer von "Repression".

Von Florian Hassel, Belgrad

Es war ein klares Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union: Am 8. April entschied der EuGH, dass eine rechtswidrige, weil politisch abhängige Disziplinarkammer an Polens Obersten Gericht ihre Tätigkeit sofort einstellen müsse. Doch ein halbes Jahr später urteilt diese Sonderkammer noch immer, die jeden polnischen Richter, Staatsanwalt und andere Mitglieder des Justizsystems aus dem Amt entlassen kann.

Am Montag war die Reihe an Beata Morawiec. 2017 wurde sie als Präsidentin des Regionalgerichts in Krakau vom Justizminister-Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro gefeuert. Als Präsidentin der Richtervereinigung Themis ist sie eine prominente Gegnerin der Justiz-Gesetze der Regierung. Jetzt will Ziobro die Richterin anklagen wegen angeblicher Korruption - darauf stehen bis zu zehn Jahre Haft. Die Vorwürfe: Morawiec soll 2012 für eine Entscheidung zugunsten des wegen Körperverletzung angeklagten Marek B. von diesem ein Mobiltelefon erhalten haben. Am 18. September drohten ein Staatsanwalt und zwei Ermittler Morawiec mit Hausdurchsuchung - Polens Ex-Verfassungsgerichtspräsident Andrzej Zoll zufolge war das ein klarer Rechtsbruch angesichts der Immunität der Richterin.

Eine Zeugin berichtet, dass die Staatsanwaltschaft Falschaussagen zum Schaden der Richterin wollte

Morawiec bestreitet alle Vorwürfe. Die Ex-Gerichtsbuchhalterin Marta Kasprowicz schilderte dem Infodienst Onet, dass die Staatsanwaltschaft von ihr fingierte Aussagen zur Belastung "bekannter Richter" bekommen wollte. Morawiec zufolge hat ein IT-Experte per Gutachten nachgewiesen, dass sie die fragliche Expertise sehr wohl geschrieben habe. Die Entscheidung der Disziplinarkammer, Morawiecs Immunität aufzuheben oder nicht, war am Montag bei Redaktionsschluss noch nicht gefallen. Es wurde erwartet, dass der Minister bei einer Weigerung dagegen Berufung einlegen würde. Polens Bürgerrechtskommissar sieht Morawiec als Opfer möglicher "Repression".

Ähnliches gilt für Igor Tuleya. Ein Jahr nach einer offenbar mit Regelverletzungen, Protokollfälschungen und mutmaßlichen Falschaussagen abgehaltenen Parlamentssitzung im Dezember 2016 wies der 50 Jahre alte Strafrichter am Warschauer Bezirksgericht die Staatsanwaltschaft an, eine eingestellte Ermittlung wiederaufzunehmen - und damit auch gegen den obersten Vorgesetzten zu ermitteln, Minister-Generalstaatsanwalt Ziobro, der zudem Parlamentsmitglied ist. Zudem rief Tuleya den EuGH und den Straßburger Menschenrechtsgerichtshof gegen Polen an.

Die Quittung für Tuleya: Er soll wegen angeblicher Überschreitung von Amtsvollmachten und Verrats von Ermittlungsgeheimnissen angeklagt werden. Mögliche Strafe: fünf Jahre Haft. Noch im Oktober will die Disziplinarkammer entscheiden, ob sie die Immunität des Richters aufhebt.

Auch Dutzende andere Juristen stehen unter Druck. Am 23. September entschied die Disziplinarkammer, ein gegen Polen ausgefallenes Urteil des EuGH vom 19. November 2019 könne "nicht als bindend unter dem polnischen Rechtssystem aufgefasst werden". Juristen fordern die EU-Kommission auf, wegen der rechtswidrigen Tätigkeit der Disziplinarkammer endlich gegen Warschau vorzugehen. Bisher habe die Kommission "weder den EuGH gebeten, finanzielle Strafen (gegen Polen) zu verhängen, noch hat sie Sofortmaßnahmen vorgeschlagen", klagte die Richtervereinigung Iustitia.

© SZ vom 13.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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