Es sollte angeblich eine einfache Knieoperation Anfang Mai sein für Jarosław Kaczyński, den Vorsitzenden der polnischen Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (Pis). Der 69-Jährige habe sich 2017 bei einer Bergwanderung verletzt, so die von Pis-Politikern verbreitete Version. Als Beleg wurde Kaczyński mehrmals mit Krücken fotografiert.
Seit 2017 allerdings gibt es sowohl unter Medizinern wie in diplomatischen Kreisen Gerüchte, Kaczyński sei an Krebs erkrankt, möglicherweise an der Bauchspeicheldrüse. Bei einer Voruntersuchung im Warschauer Militärkrankenhaus am 4. Mai beobachteten Fotografen den mächtigsten Politiker Polens nicht etwa in der Orthopädie, sondern in der VIP-Aufnahme der Klinik für Drüsen-, Magen- und Darm- Erkrankungen.
Wenige Tage vor der Aufnahme ins Militärkrankenhaus kam dessen Direktor, General Grzegorz Gielerak, in Kaczyńskis Haus im Warschauer Stadtteil Zoliborz - ungewöhnlich vor einem angeblichen Routineeingriff am Knie. Gielerak rechtfertigte seinen Besuch damit, dass er Kaczyński seit der Behandlung von dessen Anfang 2013 verstorbenen Mutter Jadwiga auch persönlich verbunden sei.
Seit seiner Aufnahme in die Klinik am 8. Mai ist Kaczyński nicht mehr öffentlich aufgetreten, seine Umgebung hat eine Informationsblockade verhängt. Der Gazeta Wyborcza zufolge soll die angebliche Knieoperation bis heute nicht stattgefunden haben. Piotr Misiło, Parlamentarier der liberalen Partei Die Moderne, fragte am 30. Mai, ob es zutreffe, dass Kaczyński an Bauchspeicheldrüsenkrebs leide. Eine Antwort blieb aus - am nächsten Tag wiederholte der Parlamentarier seine Frage: "Die Polen haben ein Recht zu wissen, wie heute der Gesundheitszustand des Mannes ist, der Polen regiert - denn es regiert nicht Ministerpräsident Morawiecki oder Präsident Andrzej Duda, nur Jarosław Kaczyński."
Parteisprecherin Beate Mazurek wiederholte am Mittwoch, dass Kaczyński vom Knie abgesehen nichts fehle und dass er "in wenigen Tagen zur Arbeit zurückkehren" werde. Ein von der SZ befragter Kniespezialist eines deutschen Krankenhauses findet die Informationen aus Warschau merkwürdig. "Selbst wenn Kaczyński ein künstliches Kniegelenk eingesetzt würde, wäre er nach acht Tagen in der Reha - und es gäbe keinen Grund für derlei Geheimhaltung."
Denn in Warschau fehlen nicht nur Mitteilungen des Militärkrankenhauses - es gibt auch kein einziges Bild aus dem Krankenzimmer. Dabei halten sich Polens Regierende sonst nicht zurück: Nach einem schweren Autounfall der damaligen Regierungschefin Beata Szydło im Februar 2017 verbreitete Parteisprecherin Mazurek vier Tage später ein Foto von Szydło im Krankenzimmer, an ihrer Seite der mit einem Strauß Rosen bewaffnete Kaczyński. Der Kommentator Pawel Wronski fühlt sich an Zeiten erinnert, in denen noch kurz vor dem Tod der sowjetischen Parteiführer Leonid Breschnjew, Jurij Andropow oder Konstantin Tschernjenko verkündet worden sei, sie hätten eine "leichte Erkältung".
In jedem Fall hat die Abwesenheit Kaczyńskis, der in Polen alle politischen Fragen von Gewicht entscheidet, bereits jetzt erhebliche Folgen: Verhandlungen, wie weit die Regierung der EU im Streit um die den Rechtsstaat verletzenden Justizgesetze entgegenkommen will, liegen offenbar ebenso auf Eis wie wichtige Gesetzesentwürfe. Ministerpräsident Morawiecki darf angeblich noch nicht einmal den Chef der polnischen Post austauschen, weil sich Kaczyński dazu nicht erklärt habe.
Schon blühen in den wenigen unabhängigen Medien wie der Gazeta Wyborcza oder dem Wochenmagazin Polityka Spekulationen über eine Post-Kaczyński-Zeit. Wie Polens Gründervater Józef Piłsudski hat Kaczyński zwar kein öffentliches Amt inne, kontrolliert aber dennoch das Land - über die auf ihn zugeschnittene Partei als eigentlichen Regierungszentrale. Vor dem Militärkrankenhaus halten die Fotografen der Boulevardzeitungen jeden prominenten Besucher fest und tragen zum Rätselraten bei, welcher Kaczyński-Getreue die größte Aussicht auf die Nachfolge habe. Unter den Favoriten sind die Vertrauten Joachim Brudzinski (Innenminister) und Mariusz Blaszczak (Verteidigungsminister) oder auch Ministerpräsident Morawiecki. Die Polens Opposition zuneigenden Leser der Gazeta Wyborcza hoffen laut einer Umfrage jedoch auf etwas ganz anderes: Darauf, dass Kaczyńskis Partei nach seinem Tod oder Rückzug aus der Politik einfach auseinanderfällt.