Polen:Oberstes Gericht gestärkt

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Der Europäische Gerichtshof ermächtigt die Richter im Land zu Urteilen nach europäischem Recht. Die rechtspopulistische Regierung hatte ihnen zum Teil verboten, das EU-Gericht anzurufen.

Von Florian Hassel, Warschau

Das Oberste Gericht Polens darf gegen den Willen der rechtspopulistischen Regierung klären, ob die neue Disziplinarkammer und der Landesjustizrat (KRS) rechtmäßig sind. Dies hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden. Außerdem kann sich laut dem EuGH-Urteil polnische Richter bei ihren Urteilen auf das EU-Recht berufen, das dem nationalen Recht übergeordnet ist, und sie können zugleich jedes polnische Gesetz missachten, das EU-Recht widerspreche.

Der KRS in Polen ist für die Auswahl von Richtern zuständig sowie für die Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz. Die Disziplinarkammer am Obersten Gericht entscheidet über die Disziplinierung oder Entlassung von Richtern, Staatsanwälten, Anwälten und Notaren. Beide Institutionen gelten wie auch das Verfassungsgericht nach Ansicht des polnischen Bürgerrechtskommissars als Gremien, die von der Regierung kontrolliert werden; ihre Entscheidungen gelten als anfechtbar. Der Kommissar ist Hüter der Verfassung.

Schon jetzt erkennen etliche Richter Urteile des Verfassungsgerichts nicht an, das die Regierung 2016 unter ihre Kontrolle gebracht hatte, sofern an ihnen Richter beteiligt sind, die von der PiS-Regierung rechtswidrig ernannt wurden. Sollte das Oberste Gericht die Disziplinarkammer und den KRS für rechtswidrig erklären, könnten nachträglich die Berufung von mehr als 550 Richtern angefochten werden, ebenso wie von ihnen getroffen Urteile. Das EuGH-Urteil könne "zu einem Erdbeben im Justizsystem führen und die Demontage des polnischen Rechtsstaats der letzten vier Jahre stoppen", sagte der Rechtsprofessor Marcin Matczak der Gazeta Wyborcza.

Die rechtspopulistische Regierung hat Richtern zum Teil verboten, das EU-Gericht anzurufen

Statt selbst festzustellen, dass der KRS und die Disziplinarkammer rechtsstaatlichen Anforderungen widersprechen, überlässt der EuGH die Entscheidung Polens Oberstem Gericht (SN). Freilich übernahm der EuGH im 35 Seiten starken Urteil etliche Argumente des SN, die eben dies nahelegen. Der EuGH bekräftigte zudem, jeder Richter habe "die Pflicht, jegliche nationale Bestimmung unangewandt zu lassen, die einer Rechtsbestimmung der Union widerspricht". Die von der rechtspopulistischen Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) geführte polnische Regierung hatte Richtern die Anrufung des EuGH teils untersagt - gerade um zu verhindern, dass der EuGH oder das Oberstes Gericht Elemente der sogenannten "Justizreform" für ungültig erklären.

Eine zentrale Rolle der "Justizreform" nehmen der Landesjustizrat und die 2018 geschaffene Disziplinarkammer am Obersten Gericht ein. Die Kammer ist vom Rest des Gerichtes autonom und kann jeden polnischen Richter (auch andere Richter des Obersten Gerichts), jeden Staatsanwalt, Anwalt, Notar und andere Angehörige des Justizsystems abstrafen oder entlassen. Mindestens zwölf der 16 Richter der Disziplinarkammer waren zuvor mit der Regierungspartei PiS oder mit Justizminister-Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro verbunden. Sie fielen bereits durch etliche fragwürdige Entscheidungen auf. Ein Richter soll sich zudem an einer im Justizministerium entworfenen Hasskampagne gegen unabhängige Richter beteiligt haben.

Der EuGH stellte nun fest, es sei Aufgabe des Obersten Gerichts, zu urteilen, ob Disziplinarkammer und KRS unabhängig seien oder nicht - und damit das Recht auf unabhängige, unparteiische Rechtsprechung verletzt sei, das auch polnischen Bürgern gemäß EU-Grundrechtecharta und der EU-Richtlinie 2000/78 zustehe. Der EuGH gab dem Obersten Gericht vor, nicht nur Gesetzestexte zu berücksichtigen, sondern etwa auch "die Bedingungen, unter denen die Mitglieder des neuen polnischen Landesjustizrates bestellt wurden, als auch die Art und Weise, in der dieser seine Aufgabe, über die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter zu wachen, konkret erfüllt".

Der früher unabhängige Landesjustizrat KRS wurde von der Regierung Anfang 2018 vorzeitig entlassen. Danach wurde seine Unabhängigkeit mit einem mutmaßlich verfassungswidrigen Gesetz beseitigt. 23 der 25 Mitglieder des neuen KRS wurden vom PiS-kontrollierten Parlament, dem ebenfalls aus der PiS kommenden Präsidenten oder von Generalstaatsanwalt-Justizminister Ziobro ausgewählt. Seitdem fiel der KRS nicht durch Einsatz für eine unabhängige Justiz auf, sondern etwa mit Kritik an Richtern oder selbst am Obersten Gericht, wenn diese sich an die EU wenden.

Wichtig wird nun, wann und wer am Obersten Gericht über Disziplinarkammer und KRS urteilt. Denn seit 2018 berief die PiS unter Beteiligung des von ihr kontrollierten KRS ans Oberste Gericht 40 Richter, deren Rechtmäßigkeit ebenfalls in Frage steht. Bis April 2020 wird das SN noch von seiner unabhängig berufenen Präsidentin Małgorzata Gersdorf geführt. Auch Dutzende andere Richter und Kammervorsitzende wurden noch unabhängig berufen, ihre Urteile keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit wecken.

© SZ vom 20.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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