Polen nach dem Tod von Präsident Kaczynski:Trauer, die ein Land verändert

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Mit ihrem starren Blick in die Vergangenheit sind Polens Präsident Lech Kaczynski und sein Bruder Jaroslaw politisch brutal gescheitert. Doch nun ist der Präsident auf dem Weg nach Katyn tödlich verunglückt - ein symbolischer Schicksalsschlag für viele Polen. Das Staatsbegräbnis an diesem Sonntag könnte zu einem Wendepunkt für das Land werden.

Thomas Urban

Polen soll an diesem Wochenende die größte Trauerfeier seiner Geschichte erleben. Einige veritable Könige werden in der alten Königsstadt Krakau erwartet, dazu vom Volk gewählte Staats- und Regierungschefs gleich dutzendweise. Die Trauer um den Tod so vieler Vertreter der politischen und militärischen Elite des Landes, mit Präsident Lech Kaczynski an der Spitze, wird ihren Höhepunkt erreichen.

Die meisten Polen sehen den Absturz der Präsidentenmaschine nicht als ein normales Flugzeugunglück, sondern als einen symbolischen Schicksalsschlag. Denn der Tod ereilte die Menschen an Bord ja auf dem Weg nach Katyn, einem Ort des polnischen Martyriums im Zweiten Weltkrieg. Es ist vor allem diese geschichtsträchtige Verbindung, die die Massentrauer für einen zu seinen Lebzeiten unpopulären Präsidenten erklärt.

Doch schon vor Ablauf der Staatstrauer wurde an dem heftig ausgetragenen Streit um den Begräbnisort ein weiteres Mal offenbar, welch tiefe Gräben sich durch die polnische Gesellschaft ziehen. Die Königs- und Heldenkrypta der Wawel-Kathedrale sei kein Ort für einen glücklos agierenden Präsidenten, sagen die Kritiker.

In einem Punkt allerdings herrscht Einigkeit unter den polnischen Intellektuellen: "Durch den Tod des Präsidenten erfährt die ganze Welt von Katyn." Dieser Satz zeigt, worin das historische Denken wohl der Mehrheit der Polen wurzelt. Es ist die Idee vom Sinn des Leidens der Nation, eine Vorstellung, die im 19. Jahrhundert die Elite beherrschte.

Polen existierte nicht als Staat, die drei Nachbarn hatten es unter sich aufgeteilt. Damals verbreitete der Dichter Adam Mickiewicz das Wort vom "Christus der Völker": Polen müsse erst leiden, bevor es erlöst werde.

Der Opernkomponist Stanislaw Moniuszko kämpfte mit den Zensurbehörden der Teilungsmächte, um polnische Sitten und Gebräuche auf die Bühne zu bringen. Und der Maler Jan Matejko stellte die großen Momente der polnischen Geschichte, vor allem die Siege über die Nachbarn, in Monumentalgemälden dar.

Bis heute zählen diese künstlerischen Zeugnisse zu den wichtigsten Werken der polnischen Kultur. Doch den Nachbarn sagen sie wenig; in den Kanon der Weltkultur gingen Mickiewicz, Moniuszko und Matejko nicht ein.

Es war auch der Kampf um die nationale Unabhängigkeit, der in der polnischen Elite die großen intellektuellen Debatten über Sinn und Ziel von Gesellschaft und Staat blockierte. Es gab nicht die großen Auseinandersetzungen, wie sie bei den Nachbarn im Westen zwischen Restauratoren und Republikanern, bei denen im Osten zwischen Westlern und Slawophilen ausgefochten wurden.

Erst mit der Wiedererlangung der politischen Freiheit im Wendejahr 1989 konnte in Polen eine große Debatte zwischen Modernisierern und Traditionalisten anbrechen. Letztere fanden ihre politischen Führer in den Kaczynski-Zwillingen, beide von brillanter Intelligenz und Bildung, und im Westen zu Unrecht oft als dumpfe Nationalisten karikiert.

Politisch sind die Kaczynskis aber gescheitert. Der Tod des Präsidenten und die Trauer seines Bruders symbolisieren dieses Scheitern in brutaler Direktheit, denn beide Politiker konnten mit ihrem starren Blick in die Vergangenheit keine Antworten für die Zukunft geben.

Sie wollten nicht sehen, dass die Forderungen nach Anerkennung von lange zurückliegendem Unrecht eine konstruktive Außenpolitik nicht ersetzen können. Sie haben Polen isoliert, auch weil sie die großen Geschichtsdiskurse bei den Nachbarn nicht verstanden haben.

Sowohl Deutsche als auch Russen distanzieren sich heute von ihren totalitären Unrechtsregimen, von Hitler und Stalin. In Polen hingegen zieht man eine ununterbrochene Linie von den Königen des Mittelalters, die auf dem Wawel in Krakau begraben wurden, bis zu Papst Johannes Paul II.

Jede Generation hat sich mit dem Heldentum und den Opfern der Ahnen identifiziert. So hat die Mehrheit nun keine Antwort darauf, wenn die Enkel der deutschen und sowjetischen Täter die heutigen Polen nicht mehr als Opfer ansehen.

Es gibt dennoch zahlreiche polnische Historiker und Politologen, die einen kritischen Blick auf die vorherrschende Geschichtsschreibung der eigenen Nation haben, doch ihre Stimmen zählten in den letzten Jahren wenig. Vielmehr bestimmten diejenigen die Debatte, die von den Nachbarn unaufhörlich das Eingeständnis von historischer Schuld verlangen.

Aber mit dem Unglück von Smolensk und dem Staatsbegräbnis von Krakau könnte ein Wendepunkt erreicht sein. Eben weil nun "die ganze Welt" von Katyn weiß, wird womöglich die Mehrheit der Polen denken, dass das so heftig herbeigesehnte Maß an Aufmerksamkeit für das Schicksal Polens nun erreicht sei.

Vielleicht wird die Nation ihren Stolz von nun an mehr aus den Leistungen der Gegenwart herleiten. Die Polen waren die treibende Kraft bei der Überwindung der Berliner Mauer 1989. Sie haben danach in zuvor unvorstellbarem Maß ihr Land modernisiert, ein Sinnbild dafür ist die Phalanx der neuen Wolkenkratzer im Warschauer Zentrum.

Die Zeichen für eine Hinwendung zur Gegenwart stehen auch deshalb nicht schlecht, weil es längst eine aktive Zivilgesellschaft gibt, die sich nicht über Gräber auf dem Wawel in Krakau definiert.

© SZ vom 17.04.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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