Wahlversprechen:Ich zuerst

Lesezeit: 5 min

"Denk nicht an dich, sondern an Polen" - diesen Slogan haben viele Menschen satt. Die Regierungspartei PiS hat das durchschaut und verteilt Wohltaten - umstritten ist sie dennoch.

Von Florian Hassel, Krystyna

Honorata Przybysz wusste kaum mehr, wie sie sich und ihre Kinder durchbringen sollte. Ihr Ex-Mann weigerte sich, Unterhalt zu zahlen - ein schwerer Schlag für die Arbeiterin, die sich um fünf Söhne und vier Töchter kümmern muss. Przybysz wohnt in Krystyna, einem Dorf etwa 70 Kilometer südöstlich von Warschau. Im Wohnzimmer hängen Fotos von Papst Franziskus, Vorgänger Benedikt und, natürlich, dem polnischen Papst Johannes Paul II. "Gott hat mich als Frau geschaffen, und ich sah es als meine Aufgabe, möglichst viele Kinder zu haben", sagt sie. Doch viele Kinder großzuziehen, ist nirgendwo einfach, erst recht nicht in Polens Provinz, wo Einkommen und Gehälter niedrig sind. Honorata Przybysz verdiente in einer nahen Kartonfabrik gerade mal knapp 575 Euro im Monat.

Schon früher mochte Honorata Przybysz die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), weil sie "Familie und Kinder ins Zentrum stellt". Und dann versprach PiS-Chef Jarosław Kaczyński "500 plus" - vom zweiten Kind an sollte jede Familie umgerechnet 120 Euro Kindergeld bekommen. Und tatsächlich setzte die PiS-Regierung diese Ankündigung wenige Monate nach ihrem Wahlsieg im Oktober 2015 in die Tat um. "Für mich war es das erste Mal, dass eine Partei ihre Wahlversprechen auch tatsächlich umgesetzt hat", sagt die 46 Jahre alte, neunfache Mutter.

Am Sonntag wählen die Polen ein neues Parlament, und dass einer Umfrage zufolge 37 Prozent der Wähler angeben, ihre Lage habe sich verbessert, spielt der PiS in die Hände. Der Regierungspartei werden 42 Prozent der Stimmen vorausgesagt. Honorata Przybysz bekommt nun für sechs noch minderjährige Kinder monatlich gut 700 Euro. So konnte sie auch verkraften, dass die Kartonfabrik umgezogen ist und sie ihre Stelle verloren hat. Jetzt schult sie zur Gemeindepflegerin für Behinderte und hilfebedürftige Senioren um. "Das Leben ist für uns sehr viel leichter geworden", sagt sie. Und so wird sie auch bei der Parlamentswahl am Sonntag wieder PiS wählen. Das Oppositionsbündnis Bürgerkoalition (KO) kommt in den Umfragen auf 29 Prozent, ein Zusammenschluss von drei linken Parteien auf 13 Prozent. Ein Bündnis der Bauernpartei PSL mit dem Ex-Rocksänger Paweł Kukiz dagegen ringt mit Umfragewerten um die fünf Prozent ebenso um den Einzug ins Parlament wie das Ultrarechts-Bündnis Konföderation.

Polens Dörfer und Kleinstädte waren schon früher die Hochburgen der PiS, die dort nationalistische Traditionen und angebliche Gefahren durch Schwulenehen oder die Adoption durch homosexuelle Paare beschwor, oft zusammen mit der eng mit der PiS verbundenen katholischen Kirche. Das Kindergeld hat die Unterstützung noch gefestigt, nicht nur auf dem Dorf. Keine andere staatliche Leistung erreicht so viele Polen wie dieses Programm.

Przybyszs Dorf gehört zur Gemeinde Garwolin. 3262 der gut 13 000 Einwohner seien Kinder, deren Eltern "500 plus" ausgezahlt bekommen, sagt Gemeindevorsteher Marcin Kołodziejczyk. "Viele Familien haben deutlich mehr Geld zur Verfügung. Häuser werden renoviert, Kinder in Urlaub geschickt, für die dies früher nicht infrage kam. Und auf dem Sozialamt sehen wir seitdem viel weniger Familien, die Unterstützung benötigen." Garwolin und seine Dörfer sind fest in PiS-Hand, auch der Gemeindevorsteher gehört zur PiS. Am 1. Juli, dreieinhalb Monate vor dem Wahltag, weitete die PiS das 500-plus-Programm auf erstgeborene Kinder und Familien mit nur einem Kind aus. Allein in Garwolin zahlt die Gemeinde das Kindergeld seitdem den Eltern von weiteren gut 1000 Kindern. Und zum Schulbeginn am 1. September kam auch noch "300 plus" dazu - ein neuer Zuschuss für die Ausstattungskosten zum neuen Schuljahr für jedes Kind.

Lage verbessert: Wahlplakate im polnischen Wieluń. (Foto: Kacper Pempel/REUTERS)

Trotz der ganzen finanziellen Wohltaten ist die PiS selbst bei vielen Anhängern umstritten. Einer ECFR-Umfrage zufolge fürchten nach dem Vorgehen gegen eine unabhängige Justiz und andere rechtsstaatliche Institutionen auch 40 Prozent der PiS-Wähler, dass die Demokratie ausgehöhlt wird. Zudem reiht sich bei der PiS ein Skandal an den anderen: von Korruption bei der staatlichen Finanzaufsicht und fragwürdigen Immobiliendeals von Parteichef Jarosław Kaczyński über Familienflüge mit Militärflugzeugen des Parlamentspräsidenten bis zur jüngsten Enthüllung: Demnach vermietete Marian Banaś, bis vor kurzem PiS-Finanzminister und neuer Präsident des Staatlichen Rechnungshofes, ein Haus in Krakau stadtbekannten Zuhältern zum Betrieb eines Bordells.

In PiS-Hochburgen wie Garwolin lassen die Affären geeichte Regierungsanhänger unbeeindruckt: weil das PiS-kontrollierte Staatsfernsehen TVP sie herunterspielt oder verschweigt, PiS-Anhänger sie als irrelevant empfinden oder als Erfindung der Opposition abtun. Honorata Przybysz sieht die Skandale als Ausdruck von "Neid derjenigen, die die hohe Unterstützung für die PiS sehen und sie nun nach unten bringen wollen". Doch für Polen, "die sich noch nicht entschieden haben, für wen sie stimmen wollen, sind diese Affären bedeutsam", sagt auch PiS-Mann Kołodziejczyk.

Dass der PiS trotz Demokratieabbau und Affären mit 42 Prozent deutlich mehr Stimmen vorausgesagt werden als die 37,6 Prozent von 2015, erklärt der Soziologe Sławomir Sierakowski mit einem neuen "politischen Zynismus der Polen". Sierakowski und seine Kollegen interviewten im Juli 1200 Polen, ein Drittel von ihnen in Dörfern und Kleinstädten. Ihr Fazit: Viele Polen hätten die in 30 Jahren Transformation oft wiederholte Formel "Denk nicht an dich, sondern an Polen" satt, sagte Sierakowski dem Nachrichtenmagazin Newsweek Polska. Jetzt "verlangen sie für ihre abgegebene Stimme konkreten Nutzen".

Und davon bietet die PiS am meisten: Erst kürzlich senkte die Partei die Einkommensteuer. Junge Polen bis 26 Jahre zahlen bereits gar keine Steuern mehr. PiS-Chef Kaczynski versprach für den Fall der Wiederwahl die Verdoppelung des Mindestlohns bis zum Jahr 2023, eine 13. und 14. Monatsrente, höhere Zuschüsse für Bauern, neue Umgehungsstraßen und kostenlose Vorsorgeuntersuchungen für Polen über 40 Jahren.

Gleichwohl kann die PiS die Macht auch verlieren. Kommen die Kleinbündnisse nicht ins Parlament, ziehen Bürgerkoalition (KO) und das Linken-Bündnis zusammengenommen an der PiS vorbei und könnten die Regierung ablösen. 2015 ging nur die Hälfte aller Berechtigten auch tatsächlich wählen. Über die nächste Regierung entscheidet deshalb die Mobilisierung von noch unentschiedenen und bisherigen Nichtwählern.

Die Mutter Honorata Przybysz ist mit der Arbeit der PiS zufrieden. (Foto: Florian Hassel)

Die fällt der Opposition schwer. Die Wahlversprechen der PiS, die Polen im Falle wirtschaftlichen Abschwungs teuer zu stehen kommen, kann die Opposition nicht übertreffen. Zudem trommelt das PiS-kontrollierte Staatsfernsehen TVP, vor allem in der Provinz Hauptinformationsmittel für viele Polen, seit Wochen gegen die Opposition: So warnt der Sender trotz entgegengesetzter Aussagen von Oppositionspolitikern, die Opposition wolle Sozialleistungen wie 500 plus streichen oder die EU dazu bringen, Polen die Zuschüsse zu streichen. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki verweigerte der Spitzenkandidatin der Opposition das bisher in Polen übliche TV-Duell vor der Wahl.

Anfang September überließ Oppositionsführer Grzegorz Schetyna die Spitzenkandidatur Ex-Parlamentspräsidentin Małgorzata Kidawa-Blońska, einer wegen ihres verbindlichen Auftretens in allen Lagern geschätzten Politikerin. Unermüdlich ist Kidawa-Blońska seitdem durch Polens Städte getourt, dem Hauptwahlreservoir der Opposition. Enthusiasmus war hier freilich selten zu spüren. Analysten bemängelten, Kidawa-Blońska sei zu spät ins Rampenlicht getreten und trete nicht kämpferisch genug auf. Auf der Zielgerade zur Wahl umwirbt sie vor allem Polens Frauen. Denn Polens Frauen bevorzugen oft KO oder Linke - auch, nachdem die PiS versuchte, Polens restriktives Abtreibungsrecht zu verschärfen und das entsprechende Gesetz erst nach Protesten von Frauen in ganz Polen auf Eis legte.

In Warschau kommt Kidawa-Blońska wenige Tage vor der Wahl zur Mirowska-Halle, einer Ziegelstein-Markthalle vom Ende des 19. Jahrhunderts im Warschauer Zentrum. Es ist kalt und es regnet. Kidawa-Blońska verspricht Frauen die Rückkehr der von der PiS abgeschafften künstlichen Befruchtung für kinderlose Paare, gleiche Gehälter wie Männer oder, im Fall ihrer Wahl, ebenso viele Frauen wie Männer als Minister. Zumindest hier, im liberalen Warschau, hat Kidawa-Blońska ein Heimspiel. Eine Warschauerin umarmt Kidawa-Blońska, eine andere kauft kurz entschlossen einen Blumenstrauß und drückt ihn der Kandidatin mit "den besten Wünschen" in die Hand. Ob dies für den Erfolg im ganzen Land reicht, ist offen. Die letzten Umfragen vor der Wahl haben seit Kidawa-Blońskas Ernennung zur Spitzenkandidatin keinen Aufwind für die Bürgerkoalition gezeigt.

© SZ vom 12.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: