Polen:Die Oberaufseher finden kein Gehör

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Präsident Duda weigert sich beharrlich, Entscheidungen des Verfassungsgerichts umzusetzen. Kritiker nennen das einen Angriff auf den Rechtsstaat.

Von Florian Hassel, Warschau

Eine Druckerei, die Gesetze und Entscheidungen veröffentlicht, ist gewöhnlich kein Ort, an dem ein Kampf um die Macht ausgetragen wird. In Warschau aber ist dies anders, seitdem die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (Pis) an der Macht ist; erst recht, seitdem Polens Verfassungsgericht gegen die neue Regierung entschied.

Zuerst erklärten die Richter am 3. Dezember die Wahl von drei Verfassungsrichtern durch das noch von der alten Regierungspartei Bürgerplattform dominierte Vorgängerparlament für verfassungsgemäß und gültig. Bei der Wahl von zwei weiteren Richtern, die erst zur Amtszeit des neuen Parlaments ins Amt kommen sollten, sei das alte Parlament über seine Kompetenzen hinausgegangen - ihre Wahl sei ungültig, urteilte das Verfassungsgericht. Die drei rechtmäßig gewählten Richter aber müssten unverzüglich durch den - ebenfalls von der Pis gestellten - Präsidenten Polens vereidigt werden. Das sind sie bis heute nicht - und trotz weiterer Entscheidungen der höchsten Richter Polens am Mittwoch wird sich das wohl auch nicht so schnell ändern.

Das Verfassungsgericht ist in Polen, wie in anderen Demokratien, das oberste Aufsichtsorgan der Politik: Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind gemäß Artikel 190 der polnischen Verfassung endgültig und bindend. Dies gilt spätestens, wenn das Regierungszentrum für Gesetzgebung (RCL) ein Urteil im staatlichen Gesetzesblatt veröffentlicht hat. Die Pis-Regierung allerdings überließ nichts dem Zufall: Nur Tage nach ihrem Amtsantritt entließ sie den bisherigen Leiter des RCL. Danach verbot Ministerpräsidentin Beata Szydło dem Zentrum, das gegen die Regierung ausfallende Urteil des Verfassungsgerichts umgehend im Gesetzblatt zu veröffentlichen, berichtete der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Jerzy Stępień.

Auf Konfrontationskurs: Polens oberster Verfassungsrichter Andrzej Wrobel während einer Anhörung im Gericht. (Foto: Pawel Supernak/dpa)

Ryszard Terlecki, Pis-Fraktionschef im Parlament und Parlamentspräsident Marek Kuchciński, ein enger Gefolgsmann von Pis-Parteichef Jarosław Kaczyński, erklärten schon nach dem Urteil vom 3. Dezember, es habe für sie keine Gültigkeit, da es eine Entscheidung sei, die nur noch "die Geschichte betreffe". Auch Polens Präsident Andrzej Duda will das Urteil selbst nach seiner Veröffentlichung ignorieren und die drei legal gewählten Verfassungsrichter nicht vereidigen.

Bei dieser Gelegenheit erklärte der Präsident, warum er das Urteil des Gerichtes generell missachtet

Schließlich hat die Pis mit ihrer absoluten Mehrheit im Sejm, dem polnischen Parlament, am 2. Dezember fünf eigene Verfassungsrichter gewählt. Vier von ihnen wurden vom Präsidenten in der Nacht zum 3. Dezember vereidigt, der fünfte am Mittwochmorgen (9. Dezember).

Bei dieser Gelegenheit erklärte Duda, warum er das entgegenstehende Urteil des Verfassungsgerichts, ja die Oberaufsicht des Gerichts generell missachtet. "Wir haben in diesem Jahr Parlamentswahlen gehabt, die die politische Situation in Polen geändert haben. Im echten Rechtszustand sind die im Sejm getroffenen Entscheidungen verpflichtend. Diese Entscheidungen sind bindend, weil sie den Willen des Sejm ausdrücken." Zwar gebe es das Urteil des Verfassungsgerichts. Doch dies habe "die im Sejm getroffenen Entscheidungen nicht berücksichtigt. Diese Entscheidungen bleiben aber in Kraft, und der Präsident führt sie heute aus. Heute hat nach dem Willen der Wähler die andere Seite die Mehrheit im Sejm. So sind die Regeln der Demokratie". Tatsächlich fehlt in Polens Verfassung jede Grundlage für unantastbare Parlamentsentscheidungen, die nicht vom Verfassungsgericht aufgehoben werden können.

Aktivisten protestierten am Mittwoch im Sitzungssaal gegen die Haltung des Verfassungsgerichts. (Foto: Pawel Supernak/dpa)

Dudas Festlegung war eine weitere Kampfansage an das Verfassungsgericht und eine faktische Aufkündigung seines Status als oberster Kontrollinstanz im Land: Schließlich entschieden die Richter erst wenige Stunden später über eben jene von Duda angesprochenen Beschlüsse und das neue Gesetz über das Verfassungsgericht. Dabei erklärten die Richter den Beschluss für verfassungswidrig, mit dem das neue Parlament die legale Wahl der drei Verfassungsrichter annulliert hatte. Die Wahl von drei der fünf Verfassungsrichter der Pis sei somit ungültig. Verfassungswidrig ist dem Urteil zufolge auch die von der neuen Regierung beschlossene Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten des Verfassungsgerichts und seiner Stellvertreter von bisher neun auf nur noch drei Jahre und die Bestätigung im Amt durch den Präsidenten - dies verstößt gegen die Unabhängigkeit der Richter.

Führende Juristen geißeln das Vorgehen als Angriff auf den Rechtsstaat

Diese will die Pis-Regierung indes weiter aushöhlen. Innenminister Mariusz Błaszczak forderte am Mittwoch den Verfassungsgerichtspräsidenten zum Rücktritt auf. Im Parlament beantragte die mit der Pis verbündete rechtspopulistische Fraktion des ehemaligen Rocksängers Paweł Kukiz die Einberufung einer Parlamentskommission zur Ausarbeitung von Verfassungsänderungen.

Die Demonstranten wurden aus dem Saal abgeführt. (Foto: Pawel Supernak/dpa)

Kritik an ihrem Vorgehen lässt Polens neue Regierung bisher kalt. In Polen haben etliche führende Juristen das Vorgehen der Pis und ihres Präsidenten als Verfassungsbruch oder Angriff auf den Rechtsstaat bezeichnet - etwa die drei ehemaligen Verfassungsgerichtsvorsitzenden Andrzej Zoll, Jerzy Stępień und Marek Safjan, heute Richter am Europäischen Gerichtshof. Präsident Duda ist Doktor der Rechte - doch sein Doktorvater Jan Zimmermann, Professor an der Krakauer Universität, stellte noch vor Dudas Weigerung vom Mittwoch fest, der Präsident habe in wenigen Wochen mindestens drei Mal die Verfassung gebrochen: mit der Begnadigung eines wegen Amtsmissbrauchs verurteilten Pis-nahen Ex-Geheimdienstchefs trotz noch laufendem Berufungsverhandlung; mit der Verweigerung der Vereidigung der rechtmäßig gewählten Richter und der Vereidigung der jetzt von der Pis gewählten Richter trotz ausstehender Gerichtsverfahren.

Der Generalsekretär des Europarats, Thorbjørn Jagland, forderte die Regierung schon nach dem Urteil vom 3. Dezember auf, die drei rechtmäßig gewählten Verfassungsrichter unverzüglich zu vereidigen. Wenn es "irgendwelche Zweifel über die korrekte Umsetzung der Entscheidung des Verfassungsgerichts" gebe, könne sich die polnische Regierung gern an das für Verfassungsfragen zuständige Organ des Europarats wenden, fügte Jagland hinzu. Das Europäische Parlament verzichtet einstweilen noch auf eine Diskussion zu Polen - in der Hoffnung, die Regierung werde doch noch nachgeben.

© SZ vom 10.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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