Annette Schavan hat sich früh der Bildungspolitik verschrieben. Von 1995 bis 2005 war sie Kultusministerin in Baden-Württemberg, seit Beginn der Kanzlerschaft Angela Merkels führt die CDU-Politikerin das Bildungs- und Forschungsministerium im Bund. Eine in ihrem Ressort äußerst profilierte Politikerin, eine enge Vertraute der Kanzlerin. Doch Schavan steht gewaltig unter Druck. Die gegen sie erhobenen Plagiatsvorwürfe wiegen schwer. So schwer, dass es zweifelhaft erscheint, ob die Ministerin die Affäre politisch übersteht. Die wichtigsten Fragen und Antworten zu den Plagiatsvorwürfen.
Was wird Schavan konkret vorgeworfen?
Der Düsseldorfer Gutachter, der Judaist Stefan Rohrbacher, hat eine 75 Seiten umfassenden Zusammenfassung zur Doktorarbeit von Frau Schavan verfasst, die am vergangenen Wochenende bekanntgeworden ist. Dabei ist der Professor äußerst akribisch vorgegangen. Rohrbacher, der keine öffentliche Stellungnahme abgeben will, listet 60 Beanstandungen auf 351 Seiten der Dissertation äußerst genau auf. Wort für Wort hat er, der offenbar keiner politischen Partei nahesteht, die Doktorarbeit mit dem Titel "Person und Gewissen. Studien zu Voraussetzungen, Notwendigkeit und Erfordernissen heutiger Gewissensbildung" mit angegebenen und möglichen Quellen verglichen. Fast fünf Monate arbeitete er daran. Sein Urteil ist hart, vernichtend - und diskussionswürdig:
"Eine leitende Täuschungsabsicht ist nicht nur angesichts der allgemeinen Muster des Gesamtbildes, sondern auch aufgrund der spezifischen Merkmale einer signifikanten Mehrzahl von Befundstellen zu konstatieren."
Besonders schwerwiegend ist Rohrbachers Vorwurf, dass Schavan bei ihren eigenen Schlussfolgerungen am Ende der Arbeit - also dort, wo sie vorgibt, ihre eigenen Erkenntnisse vorzustellen - wörtlich Passagen übernommen habe. Von einem Autor, den sie an ganz anderer Stelle als Quelle nennt. Auf den Seiten 75/76 ihrer Arbeit hat Schavan einen anderen Autoren, von dem sie Textpassagen sinngemäß übernommen hat, sogar überhaupt nicht genannt. Das ist allerdings die einzige beanstandete Stelle, für die sich in der gesamten Arbeit keine Quellenangabe finden lässt.
Was unterscheidet den Fall Schavan vom Fall Guttenberg?
Karl-Theodor zu Guttenberg, für dessen Verhalten sich Schavan einst öffentlich schämte, hat seitenweise abgeschrieben. In fast 96 Prozent des Haupttextes seiner Arbeit wurden Plagiate nachgewiesen. Damit ist klar: Selbst wenn in Schavans Promotionswerk noch weitere verdächtige Stellen gefunden werden, an das Ausmaß der Guttenberg'schen Täuschungen kommt das, was Schavan vorgeworfen wird, nicht heran.
Auch was die mögliche Täuschungs-Methode angeht, muss man bei Schavan genauer hinsehen. Sie hat in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle offenbar nicht einfach abgeschrieben, sondern Passagen aus fremden Texten teilweise sinngemäß wiedergegeben, paraphrasiert. Das jedoch, ohne die Quelle direkt an Ort und Stelle anzugeben. Passende Fußnoten finden sich allerdings an anderer Stelle im Text, vor den paraphrasierten Passagen, aber auch danach.
Schavan hat sich also in der ganz überwiegenden Zahl der beanstandeten Fälle nicht des schlichten Copy-Paste schuldig gemacht, hat nicht ganze Absätze oder Seiten wörtlich übernommen. Aber: Nach dem Ende eines Zitates hat sie sich offenbar manches Mal weiter an der angegebenen Originalquelle orientiert, einfach weitererzählt, ein wenig umformuliert. Somit wird nicht klar, wo die Fremdleistung aufhört, die Eigenleistung beginnt. Plagiatsjäger sprechen in solchen Fällen von Verschleierung. Der Fall Schavan ist also ein Grenzfall. Vereinzelt sind deshalb Forderungen zu hören, sich erst einmal über die wissenschaftlichen Regeln zu verständigen: Gelten diese unabhängig vom wissenschaftlichen Fach? Unabhängig von der Zeit, in der eine Promotion verfasst wurde? Doch das scheint momentan schwer möglich.
Welche Kritikpunkte gibt es an dem Gutachten?
"Die Arbeit entsprach absolut dem wissenschaftlichen Standard." Das sagt Schavans Doktorvater, der Pädagogikprofessor Gerhard Wehle. Er wählt die Vergangenheitsform. Aus gutem Grund. Eine Doktorarbeit aus dem Jahr 1980 dürfe nicht ausschließlich nach heutigen Maßstäben bewertet werden, glaubt Wehle. Auch Gutachter Rohrbacher erklärt in seiner Gegenüberstellung von Text und Quellen, dass in den 1980er Jahren das Verständnis für unerlaubte Übernahmen noch nicht so ausgeprägt gewesen sei. Und der frühere Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft ( DFG), Wolfgang Frühwald, sagte der SZ, in der Dissertation gebe es zwar handwerkliche Fehler. Diese seien aber nicht derart gravierend, dass man von einem Plagiat sprechen könne. "Weder der Vorwurf des Plagiats noch der Vorwurf der bewussten Täuschung ist durch die Untersuchung gedeckt", urteilte Frühwald.
Kritik wird vor allem an der Methode des Gutachters geübt, der ähnlich wie die Plagiatsjäger im Internet Wort für Wort verglichen hat. Alles nur Wortklauberei? Tatsächlich muss beim Verstehen und Auslegen von Texten immer die hermeneutische Differenz berücksichtigt werden. In der Diskussion zum Fall Schavan spielt vor allem die historische Komponente eine wichtige Rolle. Wie wurden Doktorarbeiten damals und heute bewertet und überprüft? War die wissenschaftliche Arbeitsweise damals eine andere? Und wenn ja, darf das bei der Beurteilung heute eine Frage spielen?
Der Ton in der Debatte um Plagiate und um das Paraphrasieren sei heute ein anderer, sagt dazu beispielsweise Wolfgang Löwer, Rechtsprofessor und Fachmann für Wissenschaftsrecht an der Universität Bonn und Ombudsmann der DFG im Gespräch mit Süddeutsche.de. "Früher war man da vielleicht etwas großzügiger." Dennoch: Damals hätten die gleichen Maßstäbe gegolten, die die Prüfer in Düsseldorf auch heute anlegen würden.
Ernst-Ludwig Winnacker, ehemaliger Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hält die ganze Sache für "eine politische Aktion". Die Zitierweise in Paraphrasierungen könne kein Fehlverhalten sein, sie sei eine Ermessensfrage. Nehme man die Vorwürfe ernst, wäre es kaum mehr möglich, weiter wissenschaftliche Arbeiten in gewohnter Weise zusammenzufassen.
Doch nicht nur über wissenschaftliche Regeln und Zitiergewohnheiten streiten die Experten. Auch am Verfahren selbst gibt es Kritik. Der Präsident der Humboldt-Stiftung, Helmut Schwarz, sagte der SZ: "Es gab schwere Fehler in dem Verfahren - die Universität sollte nun eine zweite Person bitten, die Vorwürfe sachlich zu prüfen." Und der Präsident der DFG, Matthias Kleiner, erklärte, er sei "schon irritiert, dass in einem strikt vertraulichen, personenbezogenen Verfahren ein Gutachten an die Öffentlichkeit gerät, noch dazu bevor es von dem zuständigen Gremium bewertet wurde". ( Wegen des Verdachts auf Weitergabe von vertraulichen Informationen hat die Hochschulleitung der Heinrich-Heine-Universität mittlerweile Strafanzeige gegen Unbekannt gestellt.) Der Vorsitzende der Helmholtz-Gemeinschaft, Jürgen Mlynek, zeigte sich verwundert, dass die Arbeit offenbar nur von einem einzigen Hochschullehrer geprüft worden sei.
An der Universität Düsseldorf, aus der das vernichtende Gutachten gegen die CDU-Politikerin durchgesickert war, herrscht jedenfall Nervosität. Die Campus-Uni sieht sich an den Pranger gestellt. Und noch immer ist unklar, wie das eigentlich vertrauliche Gutachten an die Öffentlichkeit gelangen konnte - ohne eine weitere Prüfung. Rektor Hans Michael Piper hat eigene Nachforschungen der Heinrich-Heine-Uni angekündigt.
Was wird Schavan jetzt tun?
Schavan wird schnellstmöglich eine Art Gegengutachten anfertigen. Für ihre Verteidigungsstrategie wird sie sich dabei die Argumente der sie verteidigenden Wissenschaftler zu Eigen machen. Handwerkliche Fehler, die Schlamperei einer jungen Studentin: ja. Schwerwiegende Täuschung mit Vorsatz: nein. Am Ende wird die Frage stehen: In welcher Form ist das sinngemäße Wiedergeben fremder Texte erlaubt? Schavan wird versuchen, diese Frage für sich möglichst großzügig zu beantworten; wohl auch unter Hinweis auf die veränderten Maßstäbe, die an wissenschaftlichen Arbeiten heute angelegt werden - im Vergleich von vor mehr als 30 Jahren.
Wie geht das Verfahren jetzt weiter?
Ist Annette Schavan eine akademische Betrügerin? Noch ist nichts entschieden. Es geht in der Diskussion bislang hauptsächlich um die Vorwürfe eines einzelnen Gutachters. Der Promotionsausschuss der Philosophischen Fakultät der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität hat noch keine abschließende Empfehlung abgegeben. Dieser besteht aus drei Professoren, zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern und einem Studentenvertreter. Der Ausschuss wird am Mittwoch beraten, bevor er schließlich eine Empfehlung an den Fakultätsrat gibt.
Der Fakultätsrat ist es, der abschließend darüber entscheidet, ob Schavan der Doktortitel aberkannt wird oder nicht. Schavan muss allerdings vor der Entscheidung gehört werden. Den Vorsitz im Promotionsausschuss hat Gutachter Rohrbacher inne, im Fakultätsrat amtiert er als Ko-Vorsitzender.
Entscheidend für Schavan wird sein: Folgt man in Düsseldorf den Schlussfolgerungen des Gutachters? Falls die Universität Schavan den akademischen Grad tatsächlich aberkennt, könnte die Ministerin dagegen klagen.
Wie verhalten sich Kanzlerin Merkel und die Opposition?
Die Kanzlerin lässt ihre langgediente und extrem loyale Ministerin nicht fallen. Noch nicht. Merkel und Schavan sind sich seit vielen Jahren in großer Vertrautheit verbunden. "Die Ministerin hat mein vollstes Vertrauen", ließ die Kanzlerin einen Regierungssprecher öffentlich ausrichten. Jetzt müsse das weitere Prüfungsverfahren abgewartet werden. Falls das aber negativ für Schavan ausfällt, kann wohl auch Merkel ein Jahr vor der Bundestagswahl nicht anders, als von Schavan abzurücken. Merkel stünde dann vor einem gewaltigen Problem: Ein Rücktritt Schavans würde die große personelle Lücke offenbaren, die die Union in Sachen Bildungspolitik hat. Merkel wird deshalb solange es irgend geht, an Schavan festhalten.
Die Opposition äußert sich bislang zurückhaltend. Alle warten auf die Entscheidung aus Düsseldorf. Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth legte Schavan allerdings den Rücktritt nahe, sollte sich der Täuschungsverdacht bestätigen. "Sollten sich die Vorwürfe als zutreffend erweisen, frage ich mich, wie ausgerechnet die für Wissenschaft und Forschung zuständige Ministerin ihr Amt noch glaubwürdig ausüben will." Allein der Verdacht einer wissentlichen Täuschung wiege angesichts der Vorbildfunktion schwer. Schavan müsse "die von ihr selbst gesteckten Maßstäbe und die Kriterien seriöser Forschung besonders penibel erfüllen".
Was passiert im Fall der Aberkennung des akademischen Grades?
Annette Schavan könnte die nächste in einer mittlerweile beachtlich langen Reihe Prominenter sein, denen der Doktortitel aberkannt wurde. Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), Silvana Koch-Mehrin (FDP), Georgios Chatzimarkakis (FDP), Margarita Mathiopoulos (FDP-Beraterin), der Berliner CDU-Fraktionsvorsitzende Florian Graf und einige Landtagsabgeordnete. Die Folgen für sie wären weitreichend.
Verliert Schavan ihren Doktorgrad, verliert sie mit großer Wahrscheinlichkeit ihren Posten im Kabinett. Manch anderer Politiker könnte aufgrund der Diskussion über Recht und Unrecht von Paraphrase, über Zitatweisen und Täuschungsabsichten die Sache wohl aussitzen. Die Bundesministerin für Bildung und Forschung nicht. Der öffentliche Druck würde zu groß, sie müsste zurücktreten - und Angela Merkel verlöre ihre wichtigste Vertraute in der Regierung.
Mit Material von dpa.