Wie belastbar und widerstandsfähig sind Demokratien in Ausnahmezeiten? Eine Frage, die schnurgerade auf die Turbulenzen der gegenwärtigen Pandemie zuläuft - und an die existenzielle Bedrohung unserer freiheitlichen Ordnung erinnert. 31 Wissenschaftler suchen nach Antworten. Unter dem um Originalität bemühten Buchtitel "Coronakratie", der zumindest ihren eigenen Zwiespalt widerspiegelt. Zum einen wollen sie ganz offensichtlich Demokratie nicht durch ein aliud ersetzen, zum anderen müssen sie anerkennen, dass die Akteure, wie Karl-Rudolf Korte (einer der drei Herausgeber) schreibt, ein "spezifisches Politikmanagement" entwickeln; er nennt das "kuratiertes Regieren". Die Essentials will er gleichwohl bewahren: Egal, welche Opfer Corona "auf lange Sicht fordern wird, die Demokratie darf nicht dazuzählen".
Leichter gesagt als getan. Der aktuelle Streit, ob Geimpften, die ihre suspendier-ten Grundrechte zurückbekommen, damit "Privilegien" zugeschanzt werden, ist ein Indiz für das verminte Gelände. Aber man sollte den Teufel auch nicht an die Wand malen. Im Herbst 2020, als das Buch Redaktionsschluss hatte, sah es so aus, als ob die demokratischen Kontrollinstanzen verstummt wären. Inzwischen melden sie sich lautstark zu Wort, mit widersprüchlichen Forderungen, die das Publikum verwirren. Wohltuend, wie die Herausgeber Demokratie verstehen: Als "eine Lebensweise, die über bestimmte erlernte und eingeübte Kulturtechniken organisiert ist". Allein in diesem Verb stecken die 146 Artikel des Grundgesetzes und die auf 153 Bände angewachsenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.
Pessimisten und Opitmisten treten auf
Pessimisten sehen das Bollwerk wanken. Optimisten entdecken eine robuste Verteidigungsbereitschaft. Der Begriff "Resilienz" durchzieht das Buch. Wie auch immer: Die Bedrohungen der Demokratie sind tagtäglich auf den Straßen und in den sozialen Medien zu besichtigen. Ignoranten, die Corona nicht wahrhaben wollen, störrische Neinsager und eine Meute von militanten Rechtsradikalen rütteln an den Grundfesten der Demokratie.
Die drei Gewalten im Staat stehen vor Herausforderungen, "für die historische Vergleiche fehlen". Ein Riesenstoff, der bewältigt sein will. Im Visier: "Das Ausloten eines andersartigen Modus des Regierens unter den Bedingungen des pandemischen Ausnahmezustandes". Die Autoren versuchen, das Phänomen in 28 Essays zu ergründen. In fünf Fragekomplexen: vom Steuern und Managen der Krise, von der Rolle der regierenden und opponierenden Parteien bis zur Bedeutung des parlamentarischen Rechtsstaates, von der Digitalisierung des Wissensstoffs "Demokratie" bis zum "evidenzbasierten" Regieren. Das Buch geht allen Spuren nach.
Mehr ist nicht zu erwarten. Was gestern wie ein verlässlicher Befund daherkam, wirkt heute antiquiert und überholt. Es gibt keine valide Bestandsaufnahme. Das Werk, von dem hier die Rede ist, offeriert Impressionen - und gleicht insofern einem pointillistischen Gemälde. Nach dem Motto: Die Vielzahl von Punkten oder Farbtupfern ergibt ein sinnvolles Ganzes.
Als verantwortliche Herausgeber des Kunstwerk zeichnen: Martin Florack, Projektleiter beim Landtag Rheinland-Pfalz, Julia Schwanholz, Akademische Rätin an der Uni Duisburg-Essen und der schon genannte Karl-Rudolf Korte, dortselbst Professor für Politikwissenschaft und zugleich Direktor der NRW-School of Governance. Deutschlands Fernsehpublikum kennt ihn als sachverständigen Kommentator der Ergebnisse an Wahlabenden. Es spricht alles dafür, dass er der Primus inter Pares unter den Herausgebern ist.
Korte zitiert nicht von ungefähr Jürgen Habermas: "Nie gab es so viel Wissen über unser Nicht-Wissen." Der Verehrer des Philosophen verweist auf das Dilemma der politischen Klasse, das mit dieser Erkenntnis einhergeht: Wissenschaft liefere "weder einfache Wahrheiten noch ewig währende", immer nur Fakten. Mit denen jonglieren die Politiker, wie sich derzeit zeigt, nach Belieben. Auslöser sind bevorstehende Wahlen.
Karl-Rudolf Korte spricht vom "kuratierten Regieren"
Korte registriert wie ein Seismograf die verblüffende Eigendynamik der Gesellschaft. Noch im Spätherbst 2020 sieht er die viel beschworene "Politikverdrossenheit" der Bürger "wie weggefegt". Mehr noch, er entdeckt ein neues Phänomen: "Nie zuvor war die Staatsgläubigkeit so hoch"; die Bürger nähmen die Einschränkung von Freiheiten hin; sie sehnten sich "nach einem starken Staat". Doch Korte traute schon damals seiner Wahrnehmung nicht so recht über den Weg. Dieses Ja schließe "den lauter werdenden Protest an den Maßnahmen - aus rationalen oder irrationalen Gründen - nicht aus". Inzwischen meldet sich dumpfer Protest, und keiner weiß, wo der endet. Das gilt auch für das "kuratierte Regieren", das letztlich auf eine "Verhaltenssteuerung" zielt.
In diese Gedankenwelt fügt sich nahtlos eine Diagnose der lädierten Gesellschaft. Da experimentieren die Autoren mit einer Therapie; da erinnern sie an vergleichbare Situationen in der Vergangenheit, etwa die der Spanischen Grippe; und da trösten sie sich mit dem Hinweis, dass Deutschland die Herausforderungen nach dem Fall der Mauer gemeistert habe.
Doch solche Vergleiche haben nur einen begrenzten Aussagewert. Karina Hauke-Hohl, Grundsatzreferentin der Landeszentrale für Politische Bildung in NRW, gießt Wasser in den Wein der Euphoriker: "Was von der Corona-Krise im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft hängen bleiben wird, ist noch nicht abzusehen." Wie sich die Pandemie "auf Kultur, Wohlstand, Politik", aber auch auf "jede einzelne persönliche Biografie" auswirke, "wird sich erst langfristig in voller Wirkung entfalten".
Die Autorin sieht keinen Anlass zur Entwarnung. Doch sie erwartet einen "kollektiven Lernprozess". Ergo: "Alle, wirklich alle Menschen haben sich in den letzten Monaten mit dem Wert von Gesundheit und Leben, mit der Bedeutung von Freiheiten und Grundrechten und dem Grundprinzip von Solidarität und Sozialstaat" beschäftigt. Sie entdeckt eine "flächendeckende" Reflexion über unser demokratisches Zusammenleben.
"Besteht überhaupt Handlungsbedarf?"
Simon Hegelich, Professor für "Political Data Science" an der Münchner Hochschule für Politik, nimmt das Wirrwarr von Zahlen, mit dem führende Politiker die letzte Wahrheit für sich reklamieren, aufs Korn. Er attackiert, dass sie an vorgefassten Hypothesen festhielten. Zielorientierte Politik schlage da in ihr Gegenteil um - und werde zur "reinen Glaubensfrage". Er provoziert die scheinbar Allwissenden: "Vielleicht ist Covid-19 gar kein neues Virus, sondern nur der Test neu." Hegelich erinnert an bewährte Regeln: Dass "politisches Handeln mit anerkannten wissenschaftlichen Theorien und empirisch überprüfbaren Daten begründet wird." Doch derzeit wechseln Daten und Bezugsgrößen von Tag zu Tag. Der Münchner Daten-Professor sieht "eine Umkehr der Beweislast, die den Kritikern der Politik entgegenschlägt."
Hegelichs Fazit ist bitter: Wenn "ständig ein neues Kaninchen aus dem Hut gezaubert wird", lasse sich keine vernünftige Debatte über die Notwendigkeit von Maßnahmen führen. Es mache keinen Sinn, dazu Thesen aufzustellen, "die nicht belegbar und daher auch nicht widerlegbar sind". Hegelich treibt die Skepsis auf die Spitze: Er frage sich, "ob überhaupt politischer Handlungsbedarf besteht".
In Zweifeln wie diesem steckt auch der Erkenntnisgewinn des Lesers. Er muss, frei nach Kant, seinen Kopf selbst anstrengen. Korte hilft ihm dabei. Was er anbietet, dürfte den einen besänftigen und den anderen deprimieren: "Demokratie kennt keine politische Entscheidungskraft und keine politische Autorität kraft Wissens." Was mithin zählt, ist der politische Wille. Fakten sortieren, Ziele formulieren und Schlüsse ziehen, muss jeder für sich allein.
Rolf Lamprecht berichtet seit 1968 von den Obersten Gerichtshöfen in Karlsruhe.