Oskar Lafontaine:Egomane mit Herz

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Er stieg hoch, fiel tief, stand wieder auf. Jetzt wird der einstige SPD-Kanzlerkandidat und spätere Parteivorsitzende der Linken 75 Jahre alt.

Von Heribert Prantl

Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist: Der Satz steht in Victor Hugos Roman "Die Elenden" aus dem Jahr 1862 - und Lafontaine glaubt, dass er diese Idee hat.

Der Roman handelt davon, wie ein Sträfling namens Jean Valjean durch viele Irrungen und Wirrungen den Weg innerer Läuterung geht, nachdem ihn die Justiz wegen eines Mundraubs brutal verurteilt hatte. Es sei dies, so erzählt es Oskar Lafontaine gern, das Lieblingsbuch seiner Jugend gewesen. Es ist ein Epos voller Leidenschaft, Rührseligkeit und Ausschweifung, ein herrlicher Schmachtfetzen, ein ethisch-soziales Mammutwerk. Es fordert, 1500 Seiten lang, eine tief greifende Reform der Gesellschaft. Zu diesem Zweck tritt dort ein Protagonist auf, der von sich und der Gesellschaft immer wieder ein Aufstehen fordert.

Man muss an dieser Stelle der Versuchung widerstehen, das Leben Lafontaines, der seine Kindheit als Bub in einer katholischen Arbeiterfamilie und in einem bischöflichen Konvikt in der Eifel zugebracht hat, mit dem Schicksal dieses Jean Valjean zu vergleichen - und dann die Geschichte der Bundesrepublik in der Vita Lafontaines zu spiegeln (so wie sich die Geschichte des alten Frankreich in Hugos Roman spiegelt). Dazu müsste man nämlich ein dickes Buch schreiben.

Lafontaine hat fast alles erlebt, was ein Politiker erleben kann, die Kanzlerschaft ausgenommen. Er stieg hoch, fiel tief, stand wieder auf. Wurde bewundert, verehrt und verachtet. Er hat die SPD groß und wieder klein gemacht, er hat sie verlassen und die Linke gegründet. Er ist ein Charismatiker, ein Zauderer und ein Rätsel; manchmal ist er auch sich selbst ein Rätsel, wenn er nicht weiß, ob er ganz aufhören oder aufstehen und neu anfangen soll. Das war oft so in seinem Leben. Er hat die SPD zur Kanzlerpartei und Schröder zum Kanzler gemacht; er hat, im Streit über dessen neoliberale Finanzpolitik und die deutsche Beteiligung am Jugoslawienkrieg, den Bettel als SPD-Chef und Finanzminister hingeworfen. Er hat recht gehabt, als er den Finanzkapitalismus verdammte, aber er hat es nicht ausgehalten, dass ihm damals niemand recht gab - sondern erst die große Finanzkrise zehn Jahre später. Da war er schon Vorsitzender seiner neuen Partei, der Linken.

Ein Attentat im Jahr 1990, da war er SPD-Kanzlerkandidat, hätte fast sein Leben beendet; diese Erfahrung hat Lafontaine scheu und beklommen gemacht - scheuer, als es in der Tagespolitik den Anschein hat. Gleichwohl: Es gibt noch immer kaum einen anderen in der deutschen Politik, der die Leute so packen kann. Er kann sich und sie in Nullkommanichts von null auf hundert reden. Er verteidigt den Sozialstaat, beschwört soziale Gerechtigkeit; wenn er über Flüchtlingspolitik redet, klingt er bisweilen, als wäre er nicht links, sondern rechts zu Hause. Er will so die Rechtsaußenwähler wieder nach links führen, deshalb kämpft er auch sein letztes Gefecht: zusammen mit seiner Frau, der Politikerin Sahra Wagenknecht, hat er die Bewegung "Aufstehen" gegründet. Er will die Linke wieder sammeln, die er mit seinem Austritt aus der SPD gespalten hat. Das klingt vermessen, das ist vermessen, das treibt ihn an.

Charisma ist kein Tugendpreis, es setzt sich nicht dem auf den Schoß, der am anständigsten ist. Sonst wäre ja ein Hans-Jochen Vogel und nicht Lafontaine der Charismatiker. Vielleicht gehört auch Vermessenheit und Maßlosigkeit dazu. Lafontaine ist der Egomane mit dem Herzen für kleine Leute. Am Sonntag wird er 75 Jahre alt.

© SZ vom 15.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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