Odenwaldschule: Missbrauchsfälle:Versöhnung, irgendwann

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Die Odenwaldschule hat bei den Missbrauchsopfern Hoffnungen auf Entschädigung geweckt - und sie bisher nur enttäuscht.

Tanjev Schultz, Heppenheim

Der Weg im Odenwald ist matschig, Margarita Kaufmann tastet sich durch das Gelände. Sie sieht müde aus und erschöpft. Normalerweise müsste sie jetzt in ihrem Büro sitzen und sich darum kümmern, wie es ihrer Schule geht. Aber nichts ist hier normal, und Margarita Kaufmann muss sich um sich selbst kümmern. Sie kann nicht mehr.

"Keimen und Wachsen" heißt die Skulptur im Garten der Odenwaldschule. (Foto: ddp)

Margarita Kaufmann ist die Leiterin der Odenwaldschule. In dem privaten Internat sind Schüler jahrzehntelang sexuell missbraucht worden, bedrängt, begrapscht und vergewaltigt. Die Taten liegen Jahre zurück, einige Täter sind schon tot. Einige Opfer auch. Und die Lebenden kommen nicht zur Ruhe.

Vor einem Jahr ist die Odenwaldschule von ihrer Missbrauchsgeschichte eingeholt worden. Mit belegter Stimme trat Margarita Kaufmann im März vergangenen Jahres an die Öffentlichkeit. Bundesweit wurde sie bekannt als unbelastete Schulleiterin, die endlich aufräumt mit der Vergangenheit. Sie stand da und verkündete unter Tränen, was die Lehrer ihren Schülern angetan hatten. Der Abschlussbericht über die sexuellen Übergriffe, den die Schule im Dezember vorlegte, führt 132 Opfer auf. Viele glauben, es waren deutlich mehr.

An dem Internat ist nun nichts mehr, wie es war. Es ist nicht mehr die große Kultstätte der Reformpädagogik, das bundesweit leuchtende Vorbild für eine kindgerechte Schule. Dieser Ruf ist dahin.

Manches hat sich allerdings doch nicht verändert. Noch immer leben die Schüler mit den Lehrern zusammen in den alten Häusern mit ihren Schindeldächern und spielen darin "Familie". Auch die Schulleiterin teilt ihr Haus mit Schülern, so will es die Tradition. Margarita Kaufmann ist das zu eng. Sie spricht von einer "permanenten Grenzverletzung". Wenn sie ins Schlafzimmer will, muss sie eine Treppe nehmen, die auch die Schüler benutzen. Und als Schulleiterin ist sie immer zuständig, für alles und jeden. Für ihre eigene Familie bleibt wenig Raum; Margarita Kaufmann hat zwei Kinder.

Jetzt ist sie krankgeschrieben, und das schon seit Wochen. Viele fragen sich, wo sie eigentlich steckt.

Der Waldweg, den Margarita Kaufmann entlanggeht, liegt eine halbe Autostunde entfernt von der Odenwaldschule. Die Schulleiterin sucht Ruhe in einer Privatklinik . Margarita Kaufmann spricht schnell und gehetzt, aber die frische Luft tut ihr gut.

Der Aufbruch der Schule ist irgendwo steckengeblieben im Morast des Odenwalds. Die Betroffenen haben noch immer keine Entschädigung erhalten. Und noch immer ist ein Geschäftsführer im Amt, der bereits da war, als die Frankfurter Rundschau vor Jahren über Missbrauchsfälle berichtete und die Schule die Aufklärung verschleppte.

Die Zukunft der Odenwaldschule ist jetzt nicht mehr sicher. Sie hat zu wenige Schüler und ist finanziell angeschlagen. Ein Platz an dem Internat kostet die Eltern mehr als 2000 Euro im Monat. Dafür kommen die Kinder in alte Gebäude, die dringend saniert werden müssten. In den vergangenen Jahren schickten Jugendämter Kinder aus zerrütteten Familien auf das Internat und zahlten für sie das Schulgeld. Aber der Landrat des Kreises Bergstraße hat das gestoppt, als er die ganze Geschichte des Missbrauchs erfuhr. Bisher sieht er an der Schule zu wenig Fortschritte, um seine Haltung zu ändern.

In einem Brief schlug der Betriebsrat vor kurzem Alarm: Im Kollegium gebe es Unruhe, weil kurzfristig Bezüge gekürzt wurden. Die Rede ist von "schlechter Stimmung" in der Verwaltung. Arbeitsaufträge würden hin und her geschoben, manches werde deshalb nur verspätet oder gar nicht erledigt. Etliche Mitarbeiter sind in Sorge um ihren Arbeitsplatz.

Acht bis zehn Lehrer verlassen demnächst die Schule, offiziell wird dies mit "natürlicher Fluktuation" begründet. Es könnte schwer werden, neue Pädagogen zu finden, der Name der Schule flößt nur noch wenig Ehrfurcht ein. Und längst bereitet sich der Verein, der die Schule trägt, darauf vor, dass man vielleicht bald einen neuen Schulleiter suchen muss.

Die Odenwaldschule ist berühmt und berüchtigt für ihre Basisdemokratie. Entscheidungen zu treffen, ist hier schwere Arbeit. Es wird ewig debattiert, alles wird hin und her gewälzt und hinterfragt. Allmählich wächst die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann. Man hat sich vorgenommen, "keine Selbsterfahrungsgruppe" zu betreiben. Aber das ist leichter gesagt als getan. In den vergangenen Monaten hat sich die Zusammensetzung des Vereins und des Vorstands der privaten Schule immer wieder verändert. Dominiert wird er von ehemaligen Schülern, die ehrenamtlich für den Erhalt ihrer Schule kämpfen. Sie opfern dafür ihre Freizeit und ihre Nerven. Sie stecken in einem tosenden E-Mail-Gewitter. Wer an der Schule das Sagen hat, ist oft nicht klar. Der Verein diskutiert dies und das, und an der Schule im abgeschiedenen Tal von Ober-Hambach leben die Lehrer weiter in einer Parallelwelt.

Misstrauen und persönliche Animositäten haben die Arbeit des Vereins in den vergangenen Monaten stark belastet, es gab Beschimpfungen, Rücktritte und Neubesetzungen. Und statt Sühne und Aussöhnung zeigt sich jetzt zunehmend ein Zerwürfnis mit den Opfern des jahrzehntelangen Missbrauchs.

Um das zu verstehen, muss man sich von Margarita Kaufmann und dem Odenwald verabschieden und Jürgen Dehmers treffen. In einer großen Stadt lief er vor einem Jahr stromaufwärts und stromabwärts und erzählte, wie ihn in den achtziger Jahren der damalige Schulleiter Gerold Becker immer wieder missbraucht hat. Gerold Becker ist im vergangenen Juli gestorben, kurz zuvor hatte er sich in allgemeiner Form öffentlich entschuldigt. Viele seiner Opfer fühlten sich eher verhöhnt als versöhnt.

Jürgen Dehmers ist schlank und sportlich, seine Stimme fest, seine Sätze sind brutal klar. Er eiert nicht herum wie viele andere an der Odenwaldschule. Aber das kostet Kraft. Manchmal beginnt Jürgen Dehmers zu zittern, seine Ohren pfeifen, er hat klaustrophobische Anfälle. Auch er braucht dringend Luft.

Jetzt läuft er noch einmal diesen Weg am Fluss entlang und sagt: "Im vergangenen Jahr stand Becker wieder öfter in meinem Schlafzimmer als sonst." Viele Betroffene sind re-traumatisiert.

Jürgen Dehmers hat eine Gabe, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Vielleicht ist es ihm deshalb gelungen, die Mauer des Schweigens an der Odenwaldschule zu durchbrechen. Schon Ende der neunziger Jahre war er gegen diese Mauer angerannt, zunächst vergeblich. Die Frankfurter Rundschau druckte damals zwar einen Artikel, aber anschließend passierte nichts. Schule und Öffentlichkeit reagierten erst im vergangenen Jahr, als auch die Kirche vom Missbrauchsskandal erschüttert wurde und Dehmers keine Ruhe gab.

Die FAZ am Sonntag bezeichnete Dehmers als Mann des Jahres 2010. Der Name ist ein Pseudonym. Sein Leiden und das Verdienst, die dunkle Geschichte der Odenwaldschule ans Licht gezerrt zu haben, sind echt.

Doch an der Schule und in ihrem Verein sind viele nicht gut zu sprechen auf diesen Mann. Sie werfen ihm vor, dass er die Schule zerstören will. Dass er alles kaputtmacht in seinem Furor. Und dass man jetzt auch eine Verantwortung habe gegenüber den jungen Schülern und Lehrern, die keine Schuld trifft für das, was früher war. Plötzlich steht Jürgen Dehmers da wie ein Bösewicht. Wieder einmal werden die Rollen von Opfern und Tätern durcheinandergebracht.

Jürgen Dehmers hat eine einfache Forderung. Er will mindestens das Schulgeld zurückbekommen, das seine Eltern damals für ihn gezahlt haben. "Ich habe eine Reklamation", nennt er das. Das Schulgeld war ja nicht gedacht für einen Kinderschänder. So hatten sich die Eltern das nicht vorgestellt.

Die Schule ist gerade dabei, eine Stiftung zu gründen, die den Opfern irgendwann Geld auszahlen soll. Irgendwann. Der Prozess dauert quälend lang. Bis zu 100.000 Euro sollen als Stiftungskapital eingebracht werden. Die Ungeduld der Betroffenen wächst. Einige von ihnen haben einen eigenen Verein gegründet, er heißt "Glasbrechen" und kämpft für eine zügige Entschädigung.

Der Vorstand der Schule wünscht sich eine "Normalisierung des Dialogs mit den Betroffenen". Zugleich beklagt er sich über "ungerechtfertigte Anwürfe und Anfeindungen". Manche Betroffene haben das Gefühl, dass man sie mittlerweile nur noch als lästig und störend empfindet. Nicht alle sind der Ansicht wie Jürgen Dehmers, dass die Schule schließen sollte. Aber sehr viele sagen: Ohne eine akzeptable Lösung in der Entschädigungsfrage ist die Schule auf keinen Fall zu retten. Die Vorwürfe gehen hin und her, zwischen den Betroffenen und dem neuen Vorstand der Schule.

Margarita Kaufmann haben viele schon abgeschrieben. Jürgen Dehmers blickt verächtlich, als er ihren Namen erwähnt. Kaufmann habe bei den Opfern Hoffnungen geweckt - und sie dann doch enttäuscht.

Kaufmann wird vorgeworfen, dass sie Pläne für eine zügige Entschädigung ausgebremst hat. In der Frage hatte sich Kaufmann Ende vergangenen Jahres mit den Vorstandsmitgliedern Michael Frenzel und Johannes von Dohnanyi überworfen. Frenzel und Dohnanyi traten im November zermürbt zurück.

Einen Schulfrieden wird es so schnell nicht geben.

Viele Ehemalige, die sich jetzt für den Erhalt ihrer Schule einsetzen, haben beste Absichten. Sie wollen, dass das Internat aus seiner Vergangenheit lernt. Sie wollen, dass die Schüler, die es heute besuchen, nicht für die Verbrechen anderer büßen müssen. Und sie wollen den Ort retten, mit dem sie auch schöne Erinnerungen verbinden, trotz allem.

Auf Jürgen Dehmers hören sie nicht.

"Wann steht meine Genesung an?", fragt er. Jürgen Dehmers trägt eine Wollmütze und eine dicke Jacke. Seine Schritte sind schnell und forsch. Er überquert eine Brücke und läuft weiter den Fluss entlang. Für Jürgen Dehmers ist es sehr wichtig, wie die Geschichte der Odenwaldschule weitergeht. Wie sie ausgeht. Daran entscheidet sich, wie er die Welt sieht. Ob sie ihn enttäuscht - schon wieder.

© SZ vom 26.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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