Barack Obama war schon eine halbe Stunde mit seiner Rede zugange, da brandete unter den Zuhörern lautstarker Applaus auf, wo zuvor nur verhaltenes Klatschen war. Lange hatte der Präsident ruhig, fast schon bedächtig seine Pläne in der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik dargelegt. Dann kam er auf die Gleichstellung von Frauen zu sprechen. "Frauen machen heute etwa die Hälfte unserer Arbeitskraft aus", sagte Obama. Wenn sie aber, wo ein Mann einen Dollar verdient, nur 77 Cent verdienten, dann sei das nicht nur falsch. "Im Jahr 2014 ist das eine Peinlichkeit", rief Obama.
Volltreffer. Begeisterter Beifall, bedeutungsschwangeres Kopfnicken, zustimmende Jubelrufe: Plötzlich stand da wieder der Redner Obama am Pult, plötzlich war Stimmung im Kapitol von Washington. Dorthin war der Präsident am Dienstagabend gekommen, um vor beiden Kammern des amerikanischen Kongresses die alljährliche Rede zur Lage der Nation zu halten. Eine willkommene Möglichkeit für den amerikanischen Präsidenten, seine politischen Ziele für die kommenden Monate vorzustellen. 50 Millionen Amerikaner sitzen zu diesem Anlass vor den Fernsehschirmen, Radiosender übertragen live und jede ernstzunehmende Nachrichtenseite im Land räumt den prominentesten Platz auf ihrer Startseite frei.
Die Aufmerksamkeit ist riesig und Obama kann sie gebrauchen. Nur 43 Prozent der Amerikaner sind mit der Arbeit ihre Präsidenten zufrieden. Ein vergleichsweise mickriger Wert. Im November finden Kongresswahlen statt, die über Obamas Vermächtnis entscheiden. Verlieren die Demokraten dabei auch noch die Mehrheit im Senat, ist Obama für den Rest seiner Amtszeit quasi handlungsunfähig. Lame Duck nennen die Amerikaner solche Präsidenten ohne eigene Mehrheit im Parlament. Bei der derzeitigen Stimmung im Land ist es nicht ausgeschlossen, dass es so weit kommt.
Überwinder der gesellschaftlichen Spaltung
Also muss Obama jetzt handeln. Bereits im Vorfeld hatte das Weiße Haus durchsickern lassen, dass der Präsident nun andere Saiten aufziehen wolle. Robuster, präsidialer soll es künftig zugehen. Wenn das von den Republikanern dominierte Repräsentantenhaus jegliche Reformvorhaben des Präsidenten verhindert, dann macht der Präsident nun eben selbst Politik, mittels Präsidentendirektive.
Was diese neue Politik bewirken kann, davon gab Obama während seiner Ansprache vor dem Kongress nun ein Beispiel. Der Präsident gab bekannt, er werde per Dekret den Mindestlohn für Beschäftigte von Vertragsunternehmen des Staates von 7,25 Dollar auf 10,10 Dollar pro Stunde anheben. Obama hatte dies bereits zuvor flächendeckend durchsetzen wollen, war aber am Widerstand der Republikaner gescheitert. Nun hat er in seinem Verantwortungsbereich gehandelt. "Denn wenn jemand unsere Truppen bekocht oder ihre Teller wäscht, denn sollte er nicht in Armut leben", sagte Obama.
Es ist eine Seite von Obama, die er gerne zeigt. Gerne wäre er der Präsident, der die grobe soziale Ungleichheit in Amerika wieder in geordnetere Bahnen führen könnte. Der die Spaltung des Landes in eine ultrareiche Oberschicht und eine darbende Unterschicht überwinden könnte. Während seiner Rede widmet sich Obama deshalb ausführlich sozialen Themen wie Arbeitsmarkt, Bildung, Gesundheitspolitik und Frauenförderung. Wohl wissend, dass er damit bei den Republikanern niemanden vom Hocker reißt.