NSU-Prozess:Ein Ende der Wahrheitssuche ist nicht in Sicht

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Hat sich vom NSU-Prozess mehr erwartet: Abdul Kerim Simsek (M.), Sohn des vom NSU erschossenen Enver Simsek, bei einer Pressekonferenz der Hinterbliebenen. (Foto: dpa)
  • Die meisten Nebenkläger sind vom NSU-Prozess enttäuscht. Die Aufklärung, die sie sich versprochen haben, haben sie nicht bekommen.
  • Einige Hinterbliebene sind überzeugt, dass der NSU nicht nur aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bestand.
  • Fünf Jahre und zwei Monate hat der NSU-Prozess gedauert, wenn morgen das Urteil gesprochen wird. Es ist das Ende eines Jahrhundertprozesses.

"Ich glaube daran, dass die Wahrheit ans Tageslicht kommen wird", sagt Kemal G. Nicht am Mittwoch, wenn aller Voraussicht nach das Urteil im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München gesprochen wird. Aber irgendwann einmal, wenn diejenigen, die ihr Wissen noch für sich behielten, ihr Schweigen brächen. Davon sei er überzeugt.

Kemal G. saß im Friseurgeschäft in der Kölner Keupstraße, als am 9. Juni 2004 direkt vor dem Laden eine Bombe explodierte. Der heute 38-Jährige kam als Flüchtling aus der Türkei nach Deutschland. Er dachte, hier sei er sicher. Dann explodierte der Sprengsatz, gezündet von Neonazis. Seit dem Attentat leidet Kemal G. unter Angstattacken. Er verlor seine Arbeit, zog sich zurück. Das berichtete er vor Gericht, als er dort im Januar 2015 als Zeuge gehört wurde. "Ich habe immer noch Angst", auch das sagte er.

Die Wunden seien auch heute nicht verheilt, sagt er an Dienstag, einem Tag vor dem Urteil im NSU-Prozess bei einer Pressekonferenz im Eine-Welt-Haus in München. Zu viele Fragen seien unbeantwortet geblieben. Die Aufklärung, die er sich vom Prozess gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte versprochen hat, habe er nicht bekommen.

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Enver Simsek war das erste Mordopfer des NSU

Enttäuscht ist auch Abdul Kerim Simsek. Er sitzt zusammen mit Kemal G., Gamze Kubasik, Arif S. und drei Anwälten auf dem Podium. Gamze Kubasik ist die Tochter von Mehmet Kubasik, der im April 2006 in seinem Geschäft in Dortmund ermordet wurde. Arif S. wurde wie Kemal G. Opfer des Anschlags in der Keupstraße.

Abdul Kerim Simsek war 13 Jahre alt, als Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt seinem Vater im September 2000 mehrfach ins Gesicht schossen und den Sterbenden noch fotografierten. Enver Simsek war das erste Mordopfer des NSU. Die Polizei hatte die Mörder in all den Jahren nicht in der rechten Szene, sondern in der Familie und im Umfeld des Opfers gesucht.

Nicht durch Ermittlungsbehörden, nicht durch den Verfassungsschutz, erst durch den Tod von Mundlos und Böhnhardt erfuhr die Welt im November 2011 von der Existenz des Nationalsozialistischen Untergrunds, kurz NSU. Jahrelang hatten Neonazis unerkannt mordend durch Deutschland ziehen können. Mundlos und Böhnhardt töteten acht Männer türkischer, einen Mann griechischer Herkunft und eine deutsche Polizistin. Bei Bombenanschlägen und Raubüberfällen wurden 32 weitere Menschen zum Teil schwer verletzt.

Die Aufklärung, die er sich versprochen hat, hat er nicht bekommen

"Warum mein Vater?", es ist diese Frage, die ihn bis heute quält. Wie haben die mutmaßlichen NSU-Terroristen ihre Opfer ausgewählt? Wie kamen sie auf Enver Simsek, auf Abdurrahim Özüdoğru, auf Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat? Wie auf Michele Kiesewetter?

Wie die meisten Nebenkläger ist auch Abdul Kerim Simsek vom NSU-Prozess enttäuscht. Enttäuscht und erschöpft. "Wir sind total am Ende, wir sind erschöpft, haben keine Kraft mehr, überhaupt keine", sagt der 31-Jährige. Die Aufklärung, die er sich versprochen hat, hat er nicht bekommen. Er und die meisten anderen Familien der Ermordeten glauben nicht daran, dass der NSU nur aus drei Menschen bestand: aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. So sieht es die Bundesanwaltschaft.

Die Nebenkläger meinen, die Tatort in ganz Deutschland seien zu abgelegen gewesen, als dass Ortsunkundige sie hätten finden können. Sie sind davon überzeugt, dass es Mitwisser vor Ort gab. Mitwisser, die noch heute frei herumlaufen. Der Bundesanwaltschaft werfen sie mangelnden Ermittlungseifer vor. Sie fürchten, mit dem Ende des Prozesses solle auch der NSU-Komplex abgehakt werden. Damit aber werden sie sich nicht abfinden. "Ich kann nicht abschließen", sagt Abdul Kerim Simsek.

"Natürlich endet die Arbeit der Anwältinnen und Anwälte, die sich in den vergangenen Jahren sehr engagiert haben, nicht mit dem Urteil", sagt auch Alexander Hoffmann, der Anwalt von Arif S.: "Wir werden weiterkämpfen."

Wirklich wichtig ist Abdul Kerim Simsek, Gamze Kubasik, Arif S. und Kemal G. das Urteil im NSU-Prozess nicht, auch wenn sie alle die Höchststrafe für Beate Zschäpe erwarten. "Das Urteil spielt für mich keine große Rolle", sagt Enver Simseks Sohn. "Viel wichtiger ist uns vollständige Aufklärung." Gamze Kubasik ergänzt: "Ich möchte, dass alle Helfer angeklagt werden."

Fünf Jahre und zwei Monate hat der NSU-Prozess gedauert, wenn am nächsten Tag das Urteil gesprochen wird. Es ist das Ende eines Jahrhundertprozesses. Das Ende der Wahrheitssuche ist es nicht.

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