Niederlande:Volksabstimmung als Tritt vors Schienbein der EU

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Protest vor der niederländischen Botschaft in Kiew, Februar 2016. "Hört nicht auf russische Propaganda!", steht auf den Schildern. (Foto: imago)

Offiziell stimmen die Bürger der Niederlande über den Assoziierungsvertrag mit der Ukraine ab. Doch eigentlich geht es um den Hass auf Europa.

Von Thomas Kirchner, Amsterdam

Thierry Baudet bittet in sein Büro in der Amsterdamer Singelgracht, am nördlichen Ende des Grachtengürtels. In einem länglichen Raum im Souterrain sitzt das "Forum für Demokratie", sein Thinktank, mit dem der 33 Jahre alte Publizist gegen die EU kämpft. Er trägt Jeans, gestreiftes Hemd und Strickjacke; mit seinem braunen Haar und den dunklen Augen erinnert er an den jungen Tom Cruise. Er habe eine halbe Stunde Zeit. "Um Sie zu überzeugen", sagt er. Baudets Kalender läuft über, so kurz vor dem 6. April.

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Eine Initiative niederländischer EU-Skeptiker will ein Referendum über den Assoziierungsvertrag mit der Ukraine erzwingen. Dabei geht es weniger um das Abkommen als darum, Brüssel in die Parade zu fahren.

Von Thomas Kirchner

Am 6. April stimmen die Niederländer in einem seltsamen Referendum ab

An diesem Tag sind die Niederländer zur Abstimmung aufgerufen. Ein Referendum, wie es Europa noch nie erlebt hat. Eines, das mit Absicht das Thema verfehlt. Offiziell geht es um das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine, einen Vertrag, der das osteuropäische Land wirtschaftlich und politisch näher an Europa binden soll. Das niederländische Ratifizierungsgesetz fehlt noch, damit das Abkommen in Kraft treten kann. Im Stimmlokal werden die Bürger gefragt, ob sie für oder gegen dieses Gesetz sind.

In Wahrheit geht es darum, der EU vors Schienbein zu treten. Baudet hasst jenes Europa, das sich in Brüssel manifestiert. Es sei undemokratisch, zerstöre Bewahrenswertes und breite sich immer weiter aus. Deshalb zwingt der 33-Jährige sein Land zu dieser seltsamen Abstimmung.

Sie ist mehr als eine bloße Skurrilität. Das Nein, mit dem am 6. April zu rechnen ist, wird die niederländische Regierung in Brüssel in Erklärungsnot bringen. Es könnte tatsächlich die Annäherung der Ukraine an die EU gefährden und Wladimir Putin zu einem Triumph verhelfen. Es könnte, wie EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnt, "die Tür zu einer großen kontinentalen Krise öffnen". Es zeigt aber auch, wie leicht sich die Demokratie kapern lässt - im Namen der Demokratie.

Im vergangenen Herbst rieben sich viele Nachbarn die Augen über das, was in den Niederlanden geschah. Die Macher der Website Geenstijl, eigentlich berüchtigt dafür, Politiker derb zu verspotten, kündigten das Ukraine-Referendum an und brachten innerhalb von sechs Wochen die nötigen 300 000 Unterschriften zusammen. Die Betreiber reichten sogar 472 849 ein, das ist eine Menge bei knapp 17 Millionen Einwohnern.

Mitinitiator des Referendums war Baudet, der schon lange eine Gelegenheit gesucht hatte, das Volk über irgendetwas Europäisches abstimmen zu lassen. In die Hände spielte ihm nun eine Neuerung in den Niederlanden, die am 1. Juli 2015 in Kraft getreten war. Sie erlaubt es, zu nahezu jedem neuen Gesetz ein Referendum zu starten. Dessen Ergebnis ist "ratgebend", die Legislative muss sich also nicht unbedingt daran halten.

Baudet und Jan Roos, Journalist bei Geenstijl, legten gleich los. Sicher, das Abkommen sei nur ein Vehikel, sagt er, "aber in dem Sinn, wie Freud das Hirn eines Neurotikers untersuchte, um das Denken von Durchschnittsmenschen zu verstehen. Genauso analysieren wir diesen Vertrag, um zu zeigen, was falsch läuft mit der EU." Roos erklärt es so: Sie hätten sich auf das erstbeste Gesetz mit Europa-Bezug gestürzt, das ihnen vor die Nase kam.

Der Blog Geenstijl richtet sich gegen die linke "Meinungselite"

Zu Geenstijl passt dieses Bekenntnis. GeenStijl ("stillos", "ohne Anstand") ist ein seit 2003 existierender multimedialer Blog, dessen Betreiber alles und alle durch den Kakao ziehen, besonders aber jene, die sie als politisch korrekt, herzenseuropäisch oder als Teil der linksliberalen "Meinungselite" ausmachen. Seit 2010 hat die Website, die zur konservativen Telegraaf-Mediengruppe gehört, ein eigenes TV-Programm, mit Außenreportern, die überfallartig auf Politiker losgehen. Das Medium erreicht damit ein Millionenpublikum, vor allem Jüngere.

Protest vor der niederländischen Botschaft in Kiew, Februar 2016. "Hört nicht auf russische Propaganda!", steht auf den Schildern. (Foto: imago)

Ideal für Baudet. Der weiß, wie man provoziert. Er sieht sich als "wichtigsten Intellektuellen der Niederlande". Seine Doktorarbeit, die den Nationalstaat verherrlicht und supranationale Zusammenarbeit verdammt, findet er "besser als alles, was zu diesem Thema in den letzten 25 Jahren geschrieben wurde". Er war Stipendiat in Oxford, Fellow in Rom, schrieb Kolumnen für das liberale NRC Handelsblad. Aber Karriere hat er damit nicht gemacht, man sah ihn als rechten Schnösel.

Mit einem Führer durch die Klassik "von Bach bis Bernstein" präsentierte er sich dann als gebildeter Konservativer; später verfasste er ein Buch mit dem Europafreund Geert Mak. Beide wollten so "ideologische Gräben überwinden". Als in Europa über Auftrittsverbote für den Amerikaner Julien Blanc diskutierte wurde, der Männern beibringt, wie man Frauen aufreißt, schwang sich Baudet zu dessen Verteidiger auf: Frauen wollen erobert werden, sagte er, ein bisschen Zwang schade gar nichts. Das brachte ihm die Sympathie vieler Männer ein, die sich entrechtet fühlen.

Zu denen würde sich Philip Huff nicht zählen. Huff, 31, ist Schriftsteller wie Baudet, hat Auszeichnungen für seine Romane und Drehbücher erhalten, pendelt zwischen Amsterdam und New York. Beim Thema Baudet redet er noch schneller als sonst. "Er ist der Typ, den wir gerne hassen. Und er bedient diesen Hass." Baudet flirte mit der Unzufriedenheit der Menschen, er lebe von ihr, als "narzisstischer Parasit". Er erzähle "schreienden Unsinn".

Baudet hat jedenfalls dezidiert andere Ansichten als Huff. Er ist einer dieser neokonservativen Nationalisten, nicht weit entfernt etwa von dem Schweizer Roger Köppel, die eine völlig neue Politik wollen, eine, die sich an der Liebe zum "Eigenen" orientiert im Gegensatz zur "Selbstauslieferung" an eine fremde, etwa die islamische Kultur. Die westliche Gesellschaft sieht er im Griff einer "linken Elite", die Verlage, Politik und Justiz dominiere und konträre Ansichten unterdrücke.

Casper Thomas nervt das Gejammer über die "linke Elite". Der Redakteur beim linksliberalen Wochenblatt De Groene Amsterdammer hat mit Baudet studiert. "Diese Leute sind doch selbst Teil der Elite", wirft er den Neokonservativen vor. Es gebe einen freien Markt der Ideen, zugänglich für alle. Offensichtlich sei diesen Leuten das Feindbild aber wichtiger.

Baudet lebt gut von der Kultivierung dieses vermeintlichen Gegensatzes: hier die abgehobenen Regenten und ihre Helfershelfer, dort das Volk, dessen Meinung nicht zur Geltung kommt. Deshalb will er dem Volk die Stimme über mehr direkte Demokratie zurückgeben. Und der "linken Elite" eins auswischen.

Casper Thomas kontert mit Aufklärung. Er hat in Kiew recherchiert, was das Abkommen den Ukrainern bedeutet: Wie sie versucht haben, sich durch Annäherung an die EU aus Russlands Einflusssphäre zu befreien. Wie der damalige Präsident Viktor Janukowitsch auf russischen Druck die Unterzeichnung des Abkommens verweigerte, was den Maidan-Protest auslöste, der in einen Bürgerkrieg mündete. Wie sich Moskau das Chaos für die Besetzung der Krim zunutze machte. Dieses Abkommen zu stoppen, wirkt auf die ukrainische Führung und die Mehrheit der Bürger wie Verrat.

Auch Michiel van Hulten, Chef der Ja-Kampagne, glaubt an die Kraft der Argumente. Ein paar ganz Schlaue hatten zunächst empfohlen, der Abstimmung fernzubleiben, um damit die Beteiligungshürde von 30 Prozent zu unterschreiten, die das Referendum erst gültig macht. "Das wäre so zynisch, wie das Referendum zynisch ist", sagt er. "Wir antworten darauf, indem wir es ernst nehmen." Auch die Regierung sollte signalisieren, dass sie das Ergebnis der Abstimmung respektiere. Diesmal könne es besser laufen als 2005, sagt van Hulten. Die EU-Verfassung, die die Niederländer damals per Referendum ablehnten, sei sehr unbeliebt gewesen. "Der Sinn des Ukraine-Abkommens lässt sich leichter verteidigen. Und die geopolitische Lage macht es noch überzeugender."

Auch die regierende Koalition aus den Rechtsliberalen von Premier Mark Rutte und den Sozialdemokraten glaubt, aus der Blamage von 2005 gelernt zu haben. Sie befürchtet, dass der Ärger der ohnehin schon recht EU-kritischen Niederländer noch wachsen könnte, wenn sie sich allzu sehr für das Abkommen ins Zeug legt. "Wir müssen vernünftig bleiben", sagt Hans Docter, der die Kabinettsstrategie entworfen hat. "Es gibt immer noch viele, die für Vernunft empfänglich sind." Doch so viele scheinen es nicht zu sein, denn Umfragen lassen ein klares Nein erwarten.

Baudet sagt, der EU sei nie zu trauen

Ein Abend in Haarlem, 20 Zugminuten westlich von Amsterdam. In den Uivel heißt das Lokal, in dem sich der "Debatclub" trifft. Das Publikum: Liberale. Es treten an: Kees Verhoeven von der linksliberalen Partei D 66 - und Baudet. Verhoeven bleibt bei den Fakten. Nein, das Assoziierungsabkommen sei keine Vorstufe zum EU-Beitritt der Ukraine, wie die Gegner behaupten. Auch wenn von Menschenrechten die Rede sei, und von politischer Kooperation, sei es zu 95 Prozent ein Handelsabkommen. "Das ist doch gut für das Handelsland Niederlande, oder?"

Baudet reichen ein paar Andeutungen und Verschwörungstheorien, um seinen Gegner zu erledigen. Der EU sei nie zu trauen, sagt er. Griechenland habe man gerettet, obwohl die EU-Verträge das verböten. "Schon bald wird man sagen: Wir können die Ukraine doch nicht im Stich lassen!" Das alles sei Teil einer von langer Hand geplanten machtpolitischen Expansionsstrategie der Europäer auf Kosten Russlands. Im Übrigen habe erst das EU-Abkommen den Krieg in der Ukraine ausgelöst. Nach einer Stunde lässt der Moderator abstimmen. Baudet hat klar gewonnen.

Direkte Demokratie ist nicht per se eine gute Sache

"Die Leute fressen diesen Mist", klagt Philip Huff, "weil keiner den Populisten wirklich Paroli bietet. Uns fehlen talentierte Politiker mit einer guten Story, Leute mit Überzeugung, die auch das Showbusiness beherrschen." Jedes Volk bekomme die Führungsfiguren, die es verdient, sagt der Politblogger Joop Hazenberg. "Den Menschen geht es nur noch um ihren Wohlstand. Alle in meiner Generation, die Ideale hatten, haben der Politik den Rücken gekehrt." Und die Intellektuellen wüssten Europa nicht zu verkaufen, weil sie selbst längst nicht mehr dazu stünden.

Aber vielleicht liegt das Problem auch anderswo: in dem Glauben, mehr direkte Demokratie sei per se eine gute Sache. Europa irre, wenn es meine, durch Referenden einen neuen Draht zu den Bürgern zu finden, warnte der in Oxford lehrende Jan Zielonka kürzlich in der Zeit. Ob in Griechenland, wo die Bürger über die Rettungsmaßnahmen urteilten, in Ungarn, wo es um die Quoten zur Verteilung von Flüchtlingen gehen soll, oder jetzt in den Niederlanden: Immer stimme nur ein kleiner Teil der europäischen Wählerschaft über Dinge ab, die Europa als Ganzes betreffen. Eine komplizierte europäische Frage werde auf ein Ja oder Nein reduziert. Das bringe mehr Probleme, als es löse.

Thierry Baudet plant schon die nächsten Referenden. Sie werden sich gegen den Euro richten, gegen das Handelsabkommen mit den USA - und gegen einen EU-Beitritt der Türkei.

© SZ vom 04.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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