SZ Europa:Die EU wird weiblich

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Sie weiß, wo's langgeht: Dalia Grybauskaitė gilt als mögliche Nachfolgerin von Ratspräsident Donald Tusk. (Foto: Olivier Hoslet/dpa)

Schon jetzt haben Frauen einige europäische Schlüsselpositionen inne - und weitere Kandidatinnen stehen bereit.

Europakolumne von Cerstin Gammelin

Sie haben am 15. Mai noch nichts vor? Wie wäre es, den Abend mit der CSU zu verbringen, die in München zu einer Veranstaltung einlädt, die man bei dieser traditionell männlich geprägten Landespartei nicht vermutete: zur Langen Nacht der Frauen - unter dem blauen Sternenbanner im Zeichen Europas. Musik, Drinks und eine Selfie-Box soll es geben, und natürlich Europakandidatinnen (und -kandidaten).

Chapeau! Ob nun zufällig oder mit Absicht, die Einladung der CSU spiegelt eine Entwicklung wider, deren Ergebnis bei den Europawahlen Ende Mai und der anschließenden Vergabe der Spitzenjobs sichtbar werden wird. Erstmals gibt es quer durch Parteien und Länder so viele gestandene Regierungschefinnen, Ministerinnen, Präsidentinnen und Direktorinnen, dass die Chefsessel von EU-Kommission, Parlament, Rat, Zentralbank, Euro-Gruppe, der außenpolitischen Vertretung der EU und auch der Nato weiblich besetzt werden können. Es ist das passiert, was der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker einst so beschrieben hat: Veränderungen pflegen sich allmählich zu vollziehen. Das Ausmaß des Wandels ist größer, als wir es täglich spüren.

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Die Frage ist jetzt, was Europa aus der neuen Power macht. Bisher galt für das Schnüren des Personalpakets folgende Gleichung: Die Europäische Volkspartei, darunter CDU und CSU, gewinnen und besetzen die besten Jobs. Einer bleibt für Sozialdemokraten. Und dann braucht man noch was für eine Frau; natürlich alles fein austariert nach Himmelsrichtungen und Spitzenkandidaten.

Für diese Europawahl lässt sich voraussagen, dass dieses Prinzip eingemottet wird. Schon allein, weil das Wahlergebnis anders sein wird. Der Vorsprung der EVP wird kleiner, die Liberalen werden wohl zulegen, Sozialisten abnehmen, die Grünen vielleicht besser abschneiden. Die Rechten werden viel stärker, das Parlament also, euphemistisch gesagt, machtpolitisch bunter. Für Mehrheiten wird es mehr als zwei Parteienfamilien brauchen. Und das bedeutet, dass die Spitzenposten entsprechend anders vergeben werden müssen.

Hier kommen die Frauen ins Spiel. Neben Kanzlerin Angela Merkel kennt kaum jemand den Europäischen Rat so gut wie Dalia Grybauskaitė, die Staatspräsidentin Litauens. Sie ist anerkannt, durchsetzungsstark, parteilos, ihre zweite Amtszeit endet 2019. Eine perfekte Nachfolgerin für Ratspräsident Donald Tusk.

Die sozialliberale Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager hätte nicht nur Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron gerne als Kommissionschefin. Die durchsetzungsstarke Dänin war auch Vize-Regierungschefin in Kopenhagen - und erfüllt damit ein wichtiges Auswahlkriterium für den Chefposten der europäischen Gesetzgebungsbehörde.

Je nachdem, wie viele Parteienfamilien es brauchen wird, um im Parlament Mehrheiten zu bilden, könnten auch die Grünen den Anspruch auf den Präsidenten anmelden und die Deutsche Ska Keller ins Rennen schicken. Irland hat gleich zwei Kandidatinnen: die jetzige Vizepräsidentin Mairead McGuinness (EVP) und Emily O'Reilly (parteilos), die Europäische Bürgerbeauftragte.

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Für die EZB sind zwei Damen aus der zweiten Reihe im Gespräch. Sylvie Goulard, die französische Liberale, die unter Macron kurz Verteidigungsministerin war; sie ist inzwischen Vizepräsidentin der Banque de France. Und die Volkswirtin Claudia Buch, langjährige Wirtschaftsweise und jetzt Vizepräsidentin der Deutschen Bundesbank. Im Personalpaket ist auch der Chefposten in der Euro-Gruppe, den könnte die spanische Wirtschaftsministerin Nadia Calviño übernehmen.

Europa hat eine Außenministerin - auch wenn die nicht so genannt werden darf. Als Nachfolgerin für Federica Mogherini kann die ehemalige dänische sozialdemokratische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt antreten. Oder Kersti Kaljulaid, Staatspräsidentin von Estland. Oder die deutsche SPD-Spitzenkandidatin und Justizministerin Katarina Barley.

Auch der Nato-Generalsekretär kann - später - weiblich werden: etwa durch den Wechsel der deutschen CDU-Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen nach Brüssel.

Und dann gibt es den Joker, also jene Frau, die wegen ihrer Erfahrung, ihrer Durchsetzungskraft und ihres Auftretens als geheime Konsenskandidatin für den Fall besonders komplizierter politischer Konstellationen gilt. Christine Lagarde, französische Republikanerin, Juristin, einst Finanzministerin, seit acht Jahren Chefin des Internationalen Währungsfonds in Washington. Sie gilt als Favoritin für die EU-Kommission - aber auch die EZB.

Ein Wort zu zwei der mächtigsten Regierungschefinnen, die nicht aufgeführt sind. Kanzlerin Merkel hat glaubhaft erklärt, nicht nach Brüssel zu wechseln. Und Theresa May - sicher ein absurder Gedanke. Wobei: Was ist noch normal beim Schlingern der Briten beim Brexit? Vielleicht bleiben sie ja doch in der EU.

Zumindest ist wahrscheinlicher geworden, dass sie an der Europawahl doch noch teilnehmen. In einem Brief an Ratspräsident Tusk hat May nun um eine Verschiebung des Brexit auf den 30. Juni gebeten. Tusk plädiert sogar für eine Verschiebung des Brexit um zwölf Monate. Die Entscheidung dürfte in der kommenden Woche fallen.

Aber über all das wird man ja bei der Langen Nacht der Frauen in München reden können.

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