Neue Weltordnungspolitik:Wenn Schwellenländer die Schwelle überschreiten

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Aufstrebende Staaten wie Brasilien, Indien oder die Türkei werden im multipolaren System der Weltpolitik immer wichtiger. Für den Westen sind sie oft schwierige Partner - zumal das gemeinsame Bekenntnis zur Demokratie noch lange keine gemeinsame Linie in weltpolitischen Fragen garantiert. Warum die USA und Europa die neuen Mächte akzeptieren sollten, anstatt sich verwundert die Augen zu reiben.

Volker Perthes

Die Welt ist multipolar geworden, das hat spätestens die Etablierung der G-20-Gipfeltreffen gezeigt: Aus den einst acht mächtigsten Staaten der Erde sind zwanzig geworden. Die wesentlichen Herausforderungen der Welt kann kein Staat und keine Allianz mehr alleine bewältigen. Ohne die Mitwirkung neuer Groß- und Mittelmächte wie Indien oder Brasilien, Indonesien, Südkorea, der Türkei oder Südafrika können internationale Konflikte nicht gelöst werden, wird es nicht gelingen, internationales Recht und internationale Vereinbarungen durchzusetzen.

Indische Arbeiter auf einer Baustelle in der Boomstadt Hyderabad. (Foto: REUTERS)

Einige dieser Staaten sind ökonomisch noch "Schwellenländer", politisch haben die meisten aber die Schwelle, die ihnen vordem den Zugang zur Küche der Weltpolitik versperrt hat, bereits überschritten. Das hat mit ihrer wirtschaftlichen Entwicklung, aber auch mit der Natur globaler Probleme zu tun.

Die permanent im Sicherheitsrat vertretenen Großmächte verteidigen weiterhin ihr Vetorecht, sie verfügen über die mächtigsten Streitkräfte - aber sie haben allein nicht mehr genügend Ressourcen, Kompetenz und Legitimität, um Krisen und Herausforderungen von weltweiter Bedeutung in den Griff zu bekommen. Die Fähigkeit, regionale und internationale Ordnungsvorstellungen durchzusetzen und Probleme globaler Relevanz zu bearbeiten, ist heute breiter verteilt als je zuvor. Auf absehbare Zeit dürfte kein so begrenzter Staatenclub wie die G7 oder G8 noch einmal eine quasi hegemoniale weltwirtschaftliche oder weltpolitische Stellung einnehmen.

Schon taucht die Frage auf, ob die G-20-Gruppe noch richtig zusammengesetzt ist, um die Gestaltungskräfte des 21. Jahrhunderts wirklich zu repräsentieren.

Die gute Nachricht für die USA, die EU und andere Staaten des "alten Westens" ist, dass die meisten aufstrebenden Mächte heute selbst Demokratien sind: Indien und Brasilien nicht anders als die Türkei, Südkorea, Indonesien oder Mexiko. In der G 20 finden sich nur noch zwei Staaten, China und Saudi-Arabien, die explizit keine Demokratie sein wollen, und ein dritter Staat, Russland, in dem sich ein demokratisch verbrämter Autoritarismus entwickelt hat.

Die weniger gute Nachricht ist, dass neue demokratische Mächte nicht notwendig dieselbe politische Agenda verfolgen wie die etablierten demokratischen Industriestaaten. Differenzen zeigen sich nicht nur bei der Klimapolitik, wo es um den Vorrang von Klimaschutz oder Entwicklung und, auf etwas abstrakterer Ebene, um eine gerechte Lastenverteilung geht.

Tiefgehende Differenzen zwischen alten und neuen Mächten

Umstritten sind auch Entscheidungen über Sanktionen gegen oder gar Interventionen in anderen Staaten. Die neuen demokratischen Groß- und Mittelmächte verfolgen hier selbst keine einheitliche Linie, sind generell aber eher sanktions- und interventionsskeptisch.

Einige der wichtigsten dieser Staaten haben zum Teil auch dezidiert andere Vorstellungen als die USA oder europäische Staaten davon, wie bestimmte regionale Konflikten behandelt werden sollten, nicht zuletzt im Nahen und Mittleren Osten. So kam es 2010 zu einem heftigen Disput zwischen den USA einerseits, Brasilien und der Türkei andererseits über die "richtigen" Lösungsansätze für den Atomkonflikt mit Iran.In Washington war man, ohne dies wirklich zuzugeben, ohnehin konsterniert, dass diese zwei Staaten hier eine eigene diplomatische Rolle beanspruchten.

Differenzen zwischen den alten und neuen demokratischen Groß- und Mittelmächten werden gerade auch dort offenbar, wo letztere sich auch mit nicht demokratischen Staaten verbünden. Indien, Brasilien oder Südafrika nutzen solche Zusammenschlüsse ausgesprochen pragmatisch.

Sie unterscheiden sich nicht nur mit Blick auf ihr Staatsmodell von Russland und China, sondern sind sich mit ihnen auch in fundamentalen Fragen der internationalen Ordnung keineswegs einig: Man denke etwa an die Zusammensetzung des Sicherheitsrats oder an das Atomwaffenprivileg, das die permanenten Mitglieder des Rats für sich beanspruchen. Sie neigen allerdings gemeinsam dazu, das Prinzip der "Nicht-Einmischung" hochzuhalten und alle Versuche der USA oder Europas, Demokratie und Menschenrechte in anderen Ländern durchzusetzen, mit Misstrauen zu betrachten.

In den USA und in Europa wird gelegentlich erstaunt reagiert, dass diese demokratischen Staaten, die ihr wachsendes wirtschaftliches Gewicht auch politisch einbringen, andere Vorstellungen verfolgen als Washington, Paris oder Berlin.

Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin: Der Westen muss sich zunächst über die eigenen Interessen klarwerden, bevor er suggeriert, die einzig denkbare Umsetzung demokratischer Prinzipien zu verfolgen. (Foto aus dem Jahr 2005) (Foto: dpa/dpaweb)

Oft zeigt das einfach altes Denken, das noch den Kategorien des Ost-West-Konflikts verhaftet ist, wo klar war, dass es in "unserem" demokratischen Teil der Welt zwar hier oder da Meinungsunterschiede über einzelne Probleme, aber keine Differenzen über Grundfragen der internationalen Ordnung gab. Wer in den wichtigen Fragen eine andere Agenda verfolgte, gehörte in der Regel auch nicht zum demokratischen Lager - oder war weltpolitisch unbedeutend.

Zu den Realitäten der multipolaren Welt gehört also, dass das gemeinsame Bekenntnis zum demokratischen Wertesystem keine Garantie dafür ist, in den wichtigen Fragen der Welt- oder Weltordnungspolitik auf einer Linie zu liegen. Je mehr Demokratien es in der Welt gibt, desto mehr Interessenkonflikte und Differenzen wird es auch zwischen demokratischen Staaten und Mächten geben. Die Empörung ist fehl am Platz, die man in westlichen Staaten gelegentlich vernimmt, wenn die Türkei, Brasilien oder Südafrika andere Prioritäten setzen als wir, wenn es um Israel oder Iran geht, um Klimaschutz, das Verbot von Waffenlieferungen oder Demokratieförderung.

Gerade das Beispiel der USA zeigt, dass auch demokratische Großmächte ihre Interessen selbstbewusst durchsetzen und dabei wenig Rücksicht auf ein international definiertes Gemeinwohl nehmen.

Die Aufgabe heißt deshalb, demokratische Differenz auch international auszuhalten und sich um die Bildung multinationaler Koalitionen zur konstruktiven Bearbeitung von Sachthemen zu bemühen. Hierzu ist prinzipiell die EU besser geeignet als die USA oder gar China - sie weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es sein kann, Konsens zwischen grundlegend gleichgesinnten Staaten zu schaffen.

Dies verlangt allerdings, sich zunächst über die eigenen Interessen klarzuwerden und diese als solche glaubwürdig zu vertreten - und nicht zu suggerieren, dass die eigenen Positionen die einzig denkbare rationale Umsetzung demokratischer Prinzipien seien.

Politikwissenschafler Volker Perthes, 53, leitet die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit in Berlin.

© SZ vom 08.02.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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