Neue Kämpfe in der Ukraine:Der Krieg, den keiner will

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Ein Kämpfer der prorussischen Rebellen in der Ukraine lehnt sich erschöpft an eine Mauer. (Foto: AP)
  • Die Kämpfe in der Ostukraine werden wieder heftiger. Der ukrainische Präsident Poroschenko rechnet bald mit einer Offensive der prorussischen Rebellen.
  • Für Poroschenko wird es zunehmend schwer, seine Landsleute für den Krieg zu motivieren.
  • Sicherheitskräfte und Armeeführung in Kiew gehen davon aus, dass Moskau und die prorussischen Rebellen nicht an weiteren Geländegewinnen interessiert sind.
  • Eher wollten sie die anhaltend gespannte Lage ausnutzen, um bei den kommenden Kommunalwahlen vom Ärger auf die Regierung in Kiew zu profitieren.

Tagelang war das Artilleriefeuer von der nahen Front auch in Mariupol zu hören gewesen; viele Stunden am Tag explodierten zuletzt wieder Granaten, wo die Waffenruhe bis vor kurzem weitgehend gehalten hatte. Kurz bevor Präsident Petro Poroschenko die Hafenstadt am Donnerstag auf seiner Reise durch die nicht besetzten Teile des Donbass besuchte, kam ein ukrainischer Soldat wenige Kilometer entfernt durch den Beschuss prorussischer Kräfte ums Leben.

Auch rund um Donezk wurde gekämpft, fünf Soldaten starben allein in den letzten 72 Stunden. Die OSZE spricht von dramatisch wachsenden Spannungen und dem Einsatz verbotener Waffen im Kriegsgebiet.

Poroschenko rechnet mit neuer Offensive der Rebellen

Der ukrainische Präsident nutzte seinen Besuch im Osten demonstrativ, um neue Befestigungs- und Verteidigungsanlagen zu besichtigen und zu betonen, dass das zweite Minsker Abkommen vom Februar nicht nur eine Waffenruhe, sondern glücklicherweise auch mehr Zeit gebracht habe - Zeit für die ukrainische Armee, um sich gegen Angriffe der Separatisten auf die Industriestadt zu wappnen. Das sei auch bitter nötig, so sein dramatischer Appell, denn eine neue Offensive stehe bevor und die Gefahr wachse, dass die "Feindseligkeiten von russischen und terroristischen Kräften im großen Maßstab wieder aufgenommen werden".

Ukraine
:Angst vor der nächsten Offensive

Kämpfe in der Ostukraine zeigen, dass der Konflikt zwischen Armee und prorussischen Rebellen wieder aufflammen könnte. Und es häufen sich Belege für eine Beteiligung Russlands.

Von Florian Hassel

Nur: Poroschenko ist schon lange nicht mehr in der Lage, überzeugend Stimmung zu machen für einen Krieg, dessen Ziel und Richtung zunehmend diffuser zu werden scheinen. Die von Verzweiflung getragene Begeisterung für den nationalen Kraftakt, Moskaus Sendboten und Soldaten aus der Ostukraine zu vertreiben, sinkt mit jedem Tag. Wachsende Alltagsnöten und der Eindruck, dass dieser Konflikt keine Sieger kennt, haben die Opferbereitschaft der Ukrainer stark vermindert. Da helfen auch Auftritte des Präsidenten im Schützengraben wenig.

Prorussische Kräfte spekulieren auf Wahlerfolge

Sicherheitskräfte und Armeeführung in Kiew zweifeln ohnehin daran, dass es die Verantwortlichen in den "Volksrepubliken Donezk und Luhansk" sowie der Kreml auf eine neue Groß-Offensive und damit erneut auf große Landgewinne abgesehen haben. Vielmehr wollten deren Militärs, unterstützt von Moskau, die ukrainische Seite offenbar vor allem noch eine Weile "beschäftigt halten", unter Druck setzen und weiter destabilisieren. Eine Taktik, die gleichwohl fast täglich Menschenleben kostet.

Ein mittelfristiges Ziel, so wird in Kiew kolportiert, dürfte für die pro-russischen Truppen die Verschleppung jeder Annäherung bis zu den Kommunalwahlen im Oktober sein, solange würden die Waffen sicher nicht schweigen. Entlang der Frontlinie im Osten, wo die Zerstörung präsent ist und die Menschen besonders vom Krieg in Mitleidenschaft gezogen sind, steht den pro-europäischen Regierungskräften eine massive Niederlage und eine Stärkung des Moskau-freundlichen Oppositionsblocks ins Haus. Das wäre dann ein politischer Erfolg für Kiews Gegner, begünstigt vom Druck der Front.

Berichte über Transporte russischer Artillerie und Panzer über die Grenze

Und dann, wie weiter? Russlands Präsident Wladimir Putin ließ unlängst wissen, dass es "ernsthafte Gespräche" geben könne, wenn Kiew ein Gesetz zur Abhaltung von Kommunalwahlen, das auch die Separatisten akzeptabel finden, sowie eine Amnestieregelung erlasse. Die Anführer der Volksrepubliken seien in diesem Fall bereit, ihre Gebiete als Teil der Ukraine zu betrachten, sagte Putin. Auch die Separatisten-Führung spricht neuerdings wieder davon, die Volksrepubliken müssten nicht unabhängig werden, sondern könnten in der Ukraine bleiben, wenn sie nur gleichzeitig einen Sonderstatus bekämen.

In Kiew hält man diese Schalmeienklänge für pure PR, die man schon allzu oft gehört habe, zumal noch immer keiner weiß, wie glaubwürdige Wahlen in den besetzten Gebieten zu organisieren wären. Außerdem hat der Kreml bekanntlich schon häufig verbal ein Einlenken signalisiert, um dann faktisch ganz anders zu handeln. Berichte aus den vergangenen Tagen über neue Transporte russischer Artillerie und Panzer über die russische Grenze ins Separatistengebiet sprechen jedenfalls eine andere Sprache.

Die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Samantha Powers, nannte Moskau den "Aggressor", mahnte gleichwohl aber auch die Regierung in Kiew am Freitag, alles zu tun, um die Zivilisten, die in den besetzten Gebieten im ihr Überleben kämpften, mit humanitärer Hilfe zu versorgen und die Grenzübergänge in die Separatistengebiete offenzuhalten. Da hatte Moskau gerade wieder einen Konvoi in den Donbass geschickt, den 29. mittlerweile. Ob der Hilfslieferungen oder Waffen enthielt, konnte nicht überprüft werden. Nicht einmal darüber hat man sich in diesem seltsamen Krieg einigen können.

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