Über die Internet-Enthüllungsplattform Wikileaks sind Hunderte Geheimdokumente zu Guantanamo bekannt geworden. Die Dossiers wurden in den vergangenen Wochen unter anderem vom britischen Guardian, der New York Times und dem öffentlichen US-Radionetzwerk NPR analysiert. Sie verraten den ersten Berichten zufolge auf Tausenden Seiten unbekannte Details über die Funktionsweise des umstrittenen US-Militärgefängnisses.
Die Dokumente sind demnach als geheim eingestuft - nicht als streng geheim - und befassen sich mit 758 von 779 Insassen seit der Eröffnung des Militärgefängnisses. Sie datieren auf die Jahre 2002 bis 2008 und stammen wie die Botschaftsdepeschen und die Unterlagen zum Afghanistan- und Irak-Krieg aus dem Datenschatz, den der US-Soldat Bradley Manning Wikileaks überspielt haben soll.
Der Guardian schreibt, die Unterlagen würden ein Haftsystem offenlegen, das sich weniger auf den Schutz der Öffentlichkeit vor den Gefangenen fokussiere als vielmehr auf das Gewinnen von geheimdienstlichen Erkenntnissen. Laut Daily Telegraph galten nur 220 der 779 Guantanamo-Insassen als gefährliche Extremisten, etwa 380 dagegen als Fußsoldaten niedrigeren Ranges, die zum Beispiel den Taliban nahestanden. Bei mindestens 150 Häftlingen habe es sich um Unschuldige gehandelt, darunter Bauern und Fahrer, die wegen falscher Identifizierung festgehalten worden seien oder weil sie schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen seien:
• Ein 89-jähriger dementer Afghane sei nach Guantanamo gebracht worden, um ihn über "verdächtige Telefonnummern" zu befragen, die in seinem Haus gefunden wurden, zitiert der Guardian aus den Dokumenten.
• Ein 14-jähriges unschuldiges Entführungsopfer sei nur wegen seines "möglichen Wissens über lokale Talibanführer" in das Gefängnis geflogen worden.
• Mehrere britische Bürger und Einwohner seien jahrelang festgehalten worden, obwohl die US-Behörden sicher gewusst hätten, dass sie weder Taliban noch al-Qaida-Mitglieder seien. Einer von ihnen, Jamal al-Harith, sei nur in Guatanamo gewesen, weil er in einem Taliban-Gefängnis gesessen habe und über ihre Verhörtechniken Bescheid wisse, schreibt der Guardian.
• Ein Mann sei nur nach Guantanamo gebracht worden, weil er ein Mullah in Kandahar gewesen sei, "was ihn in eine Position mit besonderem Wissen über die Taliban brachte". Nach einem Jahr sei er freigelassen worden, nachdem er keine wertvollen Informationen hatte.
• Ein anderer Gefangener wurde nach Zitaten des Guardian inhaftiert wegen seines "generellen Wissens über Aktivitäten in den Gegenden von Khost oder Kabul, basierend auf seinen häufigen Reisen durch die Region als Taxifahrer".
• Ein Reporter von al-Dschasira sei sechs Jahre lang festgehalten worden, zum Teil, um über den arabischen Nachrichtensender befragt zu werden.
Diese Fälle machen klar, mit welch problematischen Mitteln die US-Regierung unter George W. Bush nach den Anschlägen des 11. September 2001 versuchte, Informationen über radikale Islamisten in der arabischen Welt zu bekommen. Sie war der ersten Auswertung der Dokumente zufolge extrem auf Aussagen angewiesen, die sie von sehr wenigen Insassen des Militärgefängnisses bekam. Sie habe deren Aussagen noch dann als glaubwürdig eingeschätzt, nachdem sie bereits zugeben habe müssen, dass die Gefangenen misshandelt worden seien, schreibt der Guardian. Über die umstrittenen Verhörpraktiken selbst finde sich in den Dokumenten wenig.
US-Behörden führten der Zeitung zufolge den pakistanischen Geheimdienst ISI als Terrororganisation wie al-Qaida, Hamas, Hisbollah und den iranischen Geheimdienst - wenn jemand Verbindungen zum ISI habe, solle dies als Hinweis auf terroristische oder Rebellenaktivitäten gewertet werden. Diese Passagen dürften das ohnehin gespannte Verhältnis der USA zu Pakistan weiter belasten.
Bis heute sind noch mehr als 170 Gefangene in Guantanamo untergebracht, obwohl US-Präsident Barack Obama nach seinem Wahlsieg vor zweieinhalb Jahren die schnelle Schließung angeordnet hatte. Das Scheitern dieses Plans wird von Kritikern als eine seiner größten Niederlagen angesehen. Die Dokumente machen nun klar, bei welchen Gefangenen das US-Militär zur Freilassung rät, welche es als problematisch ansieht und auch, wie es um ihre Gesundheit steht. Bei vielen Gefangenen sind Fotos beigefügt, die der Öffentlichkeit bisher vorenthalten wurden.
Das US-Verteidigungsministerium teilte dem Guardian zu den nun veröffentlichten Dokumenten mit, man bevorzuge es, wenn keine Geheiminformationen nach außen drängen, weil "per Definition Schaden für die nationale Sicherheit der USA zu erwarten" sei. Die Lage in Guantanamo sei außerordentlich komplex, und jede Veröffentlichung von Unterlagen werde das weitere Vorgehen "noch verkomplizieren".