Nato:Stille Allianz

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Erst mal Zurückhaltung: Nato-Soldaten im Kosovo gedenken bei einer Feier der Opfer von Paris. (Foto: Valdrin Xhemaj/dpa )

Die Nato hat erst ein Mal den Bündnisfall ausgerufen - nach dem 11. September. Jetzt wird die Allianz Frankreich im Kampf gegen den IS wohl nicht unterstützen.

Von Daniel Brössler, Brüssel

Vor dem Hauptquartier der Nato flattern die Fahnen der Verbündeten auf Halbmast. Der Generalsekretär verurteilt die Terroranschläge. Er spricht den Familien der Opfer sein Mitgefühl aus.

Die ersten Reaktionen der Allianz auf den Terror des 11. September 2001 in New York sowie Washington und jenen des 13. November 2015 in Paris scheinen einander zu ähneln. Tatsächlich aber offenbart schon ein Vergleich der allerersten Wortmeldungen gravierende Unterschiede.

"Ich verurteile in schärfstmöglicher Weise die sinnlosen Angriffe, von denen soeben die Vereinigten Staaten von Amerika getroffen wurden", hatte Nato-Generalsekretär George Robertson damals erklärt. Gut 14 Jahre danach äußert sein Nachfolger Jens Stoltenberg sich "zutiefst schockiert über die fürchterlichen Terrorangriffe in Paris". Stoltenberg vermeidet es, von einem Angriff auf Frankreich zu sprechen. Schon das zeigt, wie anders die Antwort der Allianz diesmal ausfallen dürfte.

Dafür spricht auch die relative Ruhe im Nato-Hauptquartier und in den militärischen Schaltzentralen der Nato. Weder am Samstag noch am Sonntag wurde eine außerordentliche Sitzung des Nato-Rates einberufen. Frühestens am Montag könnte er zusammenkommen. Anders nach 9/11: Nur Stunden nach den Anschlägen tagte das Gremium der Nato-Botschafter, schon am 12.9. traf es eine einschneidende Entscheidung: Falls sich erweise, dass die Angriffe aus dem Ausland dirigiert worden seien, sollten sie als ein Fall für Artikel 5 des Nordatlantikvertrages betrachtet werden. Zum ersten und bis heute zum letzten Mal hatte die Allianz ihre wichtigste Karte, den Bündnisfall, gezogen. Artikel 5 sieht vor, dass ein "bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird".

Frankreich sieht sich zwar im Krieg, will aber erst einmal alleine handeln

Zwar haben sowohl Präsident François Hollande als auch Frankreichs Premierminister Manuel Valls klargestellt, dass sie ihr Land im Krieg sehen. Dennoch gehen die Signale aus Paris nach Brüssel und in die Hauptstädte der wichtigen Verbündeten nicht in Richtung Bündnisfall. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier stellte am Samstagabend im ARD-Fernsehen klar, dass weder Hollande im Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel noch sein Kollege Laurent Fabius ihm gegenüber das Thema angeschnitten hätten. Bei der Nato kommt die Botschaft an, Frankreich wolle nun erst einmal selbst Handlungsfähigkeit zeigen. Überdies soll Russland nicht gereizt werden.

Für die Nato ist das keine neue Situation. An der Koalition gegen die Terrormiliz Islamischer Staat ist sie als Bündnis nicht beteiligt, wenngleich alle 28 Nato-Staaten mehr oder weniger aktiv zu deren Bekämpfung beitragen. Anders als 2011 in Libyen kommt dabei Nato-Infrastruktur nicht zum Einsatz. Das hat auch damit zu tun, dass Koalitionäre aus der arabischen Welt nicht verprellt werden sollen. Als sich die Außenminister der Anti-IS-Koalition im Dezember 2014 im Nato-Hauptquartier in Brüssel trafen, wurden alle Embleme der Allianz schamhaft verhängt.

Anderseits will das westliche Bündnis den Eindruck vermeiden, als habe es mit alledem nichts zu tun. "Alle Nato-Mitglieder stehen im Kampf gegen den Terrorismus gemeinsam mit unseren Partnern eng zusammen", betonte Vier-Sterne-General Hans-Lothar Domröse, ranghöchster deutscher Befehlshaber bei der Nato, der wie Stoltenberg diese "schrecklichen terroristischen Angriffe" verurteilte. "Wir haben gerade in der Übung Trident Juncture 2015 auch die Abwehr terroristischer Angriffe geübt", sagte er der Süddeutschen Zeitung. Eine hundertprozentige Sicherheit gebe es aber "in unseren offen, demokratischen und freien Gesellschaften nicht".

Die zurückhaltende Reaktion der Nato hat viel zu tun mit der zentralen Frage: Was würde die Ausrufung des Bündnisfalls konkret bedeuten? Wenige Wochen nach dem 11. September hatte die Nato eine Liste mit Solidarmaßnahmen präsentiert, die von Geheimdienstkooperation über den Schutz von US-Einrichtungen bis zu Überflugrechten reichte. Der Weg führte die Allianz schließlich nach Afghanistan, wo sie nach mehr als einem Jahrzehnt zwar den Kampfeinsatz gegen die Taliban für beendet erklärt hat, nun aber doch einräumen muss, dass die Arbeit nicht getan ist. Jeder Schritt der Allianz ist vor dem Hintergrund dieser afghanischen Erfahrung zu sehen.

Allerdings gibt es auch Stimmen, die nach der zweiten Ausrufung des Bündnisfalls rufen. "Die Nato kann nicht länger so tun, als betreffe dieser Konflikt nicht ihre grundlegendsten Interessen", schrieb Admiral James Stavridis, bis 2013 Nato-Oberbefehlshaber für Europa, nach den Anschlägen von Paris in einem Online-Artikel für das US-Magazin Foreign Policy. "Der fundamentale Zweck einer Nato-Mission sollte es sein, den Islamischen Staat in Syrien zu besiegen und die von ihm dort geschaffene Infrastruktur zu zerstören", forderte Stavridis, der seit 2013 an der Tufts University in Massachusetts lehrt. Wünschenswert sei ein Mandat des UN-Sicherheitsrates, räumt er ein, die Nato könne aber ohne dies handeln.

Der Ex-Befehlshaber hat sich schon konkrete Gedanken gemacht: Da das von General Domröse geleitete Hauptquartier im niederländischen Brunssum mit der Unterstützungsmission in Afghanistan ausgelastet sei, werde eine mögliche Mission vom Hauptquartier in Neapel aus geführt werden. Von dort aus sei bereits der Einsatz 2011 in Libyen befehligt worden, man verfüge über die nötigen Verbindungen in die Region. Zum Einsatz kommen müssten schließlich Spezialeinheiten, geführt vom darauf spezialisierten Hauptquartier im belgischen Casteau. Langfristig am wichtigsten sei es, die Peschmerga und Jesiden auszubilden. Auch die Luftangriffe gegen den IS in Syrien und im Irak würde Stavridis unter Nato-Führung stellen. Dafür müssten zusätzliche Jets sowie Awacs-Überwachungsflugzeuge zur Verfügung gestellt werden. Für den "traditionellen Gegner" Russland solle die Mission offen sein.

Von derlei Planspielen ist man bei der Nato weit entfernt. Frankreich könnte nach Artikel 4 des Nato-Vertrages Krisenberatungen beantragen. Nicht einmal davon war am Sonntag die Rede.

© SZ vom 16.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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