Globalisierung:Der vergiftete Glückskeks

Lesezeit: 2 min

Alles hat mit allem zu tun: Ein Schwarm Gelber Pyramiden-Falterfische schwimmt über das Großes Barriereriff in Australien. Das Riff ist stark bedroht vom Klimawandel - und der Globalisierung, sagt der Autor. (Foto: imago stock&people)

Nadav Eyal porträtiert Verlierer der Globalisierung. Der israelische Journalist bleibt eher im Allgemeinen, doch er hat zweifellos viele interessante Geschichten zu erzählen.

Rezension von Isabell Trommer

Die Globalisierung hat schon einmal bessere Zeiten gesehen. Zuletzt stand sie häufig im Mittelpunkt von Krisendiagnosen. Auch in Nadav Eyals Buch ist sie die eigentliche Hauptfigur.

Im Jahr 2001, so die These des israelischen Journalisten, sei ein Aufstand gegen die Globalisierung in Gang gekommen, spätestens die Finanzkrise habe zu einer Wiederkehr des Extremismus geführt. Hinzu kämen Entwicklungen wie der Brexit, lauter werdende Kritik an Großkapitalisten, das Erstarken einer autoritären Rechten in Europa, aber auch radikaler Kräfte in der globalen Linken.

Die Revolte nimmt laut Eyal verschiedene Erscheinungsformen an: Fundamentalismus, Populismus, Nationalismus, Widerstand gegen Migrationsbewegungen, Handelskriege und eine erschütterte Weltordnung.

SZ PlusYuval Noah Harari über die Corona-Krise
:"Nicht das Virus ist die größte Gefahr, sondern wir Menschen"

Historiker und Bestseller-Autor Yuval Noah Harari über die Bedrohung durch Überwachungssysteme, beunruhigende Rivalitäten zwischen Staaten und wie die Welt nach dem Coronavirus aussehen wird.

Interview von Thorsten Schmitz

Weite Bevölkerungskreise würden sich "gegen ihr Wirtschaftssystem wie auch gegen ihre kulturellen Einflüsse und universalen Werte" auflehnen: ein Aufstand gegen den Liberalismus, ja ein "wahrer Kreuzzug gegen die Ideen des Fortschritts".

Die ökonomische, kulturelle und politische Verflechtung der Welt hat eine lange Geschichte. Sie schritt voran, erlahmte, Entwicklungen wurden rückgängig gemacht, Verbindungen lösten sich auf, andere bildeten sich neu.

Die Revolte gegen die Globalisierung wird von der Mittelschicht getragen

Nach dem Ende des Kalten Kriegs vertiefte sich die Globalisierung in den Neunzigerjahren, schon damals war sie Gegenstand zahlreicher Publikationen. Sozialwissenschaftler erforschen sie, in der Geschichtsschreibung sind globale Perspektiven im Aufwind.

Nadav Eyal: Revolte. Der weltweite Aufstand gegen die Globalisierung. Aus dem Hebräischen übersetzt von Ruth Achlama. Ullstein-Buchverlage, Berlin 2020. 496 Seiten, 29,99 Euro. E-Book: 28,99 Euro. (Foto: N/A)

Dass die Revolte gegen die Globalisierung heute auch von der Mittelschicht getragen werde, macht sie für Eyal besonders gefährlich. Im Buch hört sich das so an: "Als der Glückskeks sich als vergiftet herausstellte und alle Versprechen gebrochen wurden, war es nur natürlich, dass die Mittelklassen ihre langjährige Treue zur Mainstream-Politik überdachten. Entschlossen, ihre verlorene Macht zurückzugewinnen, suchten sie Zuflucht im Radikalismus."

Wer zu dieser Gruppe gehört, ob die Diagnose auch für die neue globale Mittelschicht in China oder Indien gilt und wie diese Radikalisierung denn genau funktioniert, wird nicht ausbuchstabiert. Diese Vagheit ist symptomatisch für ein Buch, dessen Thesen eher im Allgemeinen verbleiben.

Außer historischen Abrissen und Verweisen auf einige aktuelle Studien bildet eine Reihe von Reportagen den Kern des Buches. Wie bei einem pointillistischen Gemälde, so der Autor, soll aus vielen kleinen Punkten ein Bild entstehen, ein düsteres in diesem Fall.

Der Autor reist nach London und Sri Lanka und auf die Malediven; er trifft Trump-Wähler in der amerikanischen Provinz, Neonazis in Thüringen und Flüchtende an der serbisch-ungarischen Grenze. Es geht um sterbende Korallenriffe und dürre Felder, das Sperrgebiet um Fukushima oder die Terroranschläge im indischen Mumbai im Jahr 2008.

Diese Reportagen über Krisenherde in aller Welt bringt Eyal mit der gelegentlich ins Spiel gebrachten These vom Aufstand gegen die Globalisierung zusammen. Selbst wenn man berücksichtigt, dass Periodisierungen zwangsläufig grob sind, ist erstaunlich, dass der Autor wichtige Wegmarken der vergangenen Jahrzehnte so gut wie gar nicht berücksichtigt: dass die Verflechtungsdichte von 1913 erst 1980 wieder erreicht wurde, dass sich bereits in den Neunzigern heftige Proteste gegen die Globalisierung formierten; dass vergleichbare Thesen damals ausführlich (und präziser) diskutiert wurden - von Ralf Dahrendorf bis Dani Rodrik.

Eyal hingegen rechnet die Neunzigerjahre pauschal einem von ihm ausgemachten "Zeitalter der Verantwortung" zu, einer Phase der Stabilität, die 1945 begonnen habe und mittlerweile an ihr Ende gelangt sei.

Der Autor hat zweifellos viele interessante Geschichten zu erzählen, doch was er darüber hinaus an Deutungen anbietet, ist nicht nur wenig originell, sondern wirkt oft beliebig. Ob sich wirklich jedes verschmutzte Gewässer (oder die Waffengesetzgebung der Vereinigten Staaten) zwingend in das Narrativ von den Gegnern, Kritikern und Verlierern der Globalisierung einfügen lässt, ist fraglich.

Bisweilen entsteht der Eindruck, Eyal erzähle sein Buch an etablierten Deutungen und laufenden Debatten vorbei. Nicht jede Ansammlung von Punkten ergibt eben ein stimmiges Bild.

Isabell Trommer ist Politikwissenschaftlerin.

© SZ vom 20.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Prantls Blick
:Wenn wir selbst Flüchtlinge wären

Warum die Zustände in den Lagern auf Lesbos und Kos völlig intolerabel sind und warum wir Menschen in Not aufnehmen müssen.

Die politische Wochenvorschau von Heribert Prantl

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: