Nach dem Anschlag auf den Bürgermeister von Altena:"Ich weiß, wofür ich's mache, und ich mach's auch weiter"

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Einen Tag nach einem Messerattentat auf ihn stellt sich der Bürgermeister von Altena, Andreas Hollstein, vor die Presse. Seine Stadt wurde durch die Aufnahme besonders vieler Flüchtlinge bekannt.

Von Markus C. Schulte von Drach

Andreas Hollstein zeigt sich äußert gefasst auf der Pressekonferenz, die er selbst gibt am Tag, nach dem ein Messerattentat auf ihn stattgefunden hat. Der Bürgermeister des nordrhein-westfälischen Altena war am Montagabend von einem Mann mit einem Messer angegriffen und leicht am Hals verletzt worden.

Es hätte auch anders ausgehen können, sagt Hollstein. Es war ihm gelungen, das Messer vom Hals wegzudrücken, danach hat er den angetrunkenen 56-jährigen Täter mit dem Betreiber des Imbisses und dessen Sohn überwältigen und festhalten können, bis die Polizei da war.

Gestern Abend, so sagt Hollstein am Tag danach, sei ihm zum dritten Mal das Leben geschenkt worden. Im vergangenen Jahr wurde bei ihm Krebs diagnostiziert, den er aber überstanden hat.

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Ein 56-Jähriger hat den Bürgermeister von Altena attackiert - aus niederen Beweggründen, sagen die Ermittler. Dass der Angreifer die Tat von langer Hand geplant hat, glauben die Ermittler eher nicht.

Das Attentat war wohl durch Fremdenhass motiviert. Die Stadt Altena ist für ihre große Bereitschaft bekannt, Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren. Hollstein selbst bezeichnete den Attentäter als vermutlich schlichtes Gemüt und als Werkzeug derjenigen, die Hass und Feindschaft in der Gesellschaft befeuerten, nicht nur gegen Flüchtlinge. Er selbst sei in der Vergangenheit schon mehrfach verbal und in Mails bedroht worden. Er habe selbst heute wieder Mails bekommen, die die Tat für richtig hielten. Das sage alles über die politische Kultur in Deutschland. Trotzdem werde er sich weiter für die Menschen einsetzen, für die Flüchtlinge genauso wie für die, die schon hier waren.

"Vom Flüchtling zum Altenaer Mitbürger"

Andreas Hollstein wurde dort, wo er heute Bürgermeister ist, 1963 geboren; er hat in Bonn und Köln studiert und an der Universität Hagen in Rechtswissenschaften promoviert. In den 90er Jahren war er Mitarbeiter der litauischen Botschaft in Bonn und Wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten und ehrenamtlich Stellvertretender Bürgermeister in seiner Heimatstadt. Als Referent der Unionsfraktion im Bundestag beschäftigte er sich damals bereits mit dem Thema Asyl. Bei der CDU landete Hollstein, wie er der Zeit sagte, 1995 eher zufällig.

Seit 1999 ist Hollstein hauptamtlicher Bürgermeister von Altena. Die Kleinstadt im Märkischen Kreis im Sauerland mit 17 300 Einwohnern war lokalpolitisch eine CDU-Hochburg: Bei der Kommunalwahl 2014 erreichten die Christdemokraten mehr als 48 Prozent der Stimmen, die SPD fast 30 Prozent, die Grünen elf Prozent. Etwas anders sah es bei Landtagswahl 2017 aus. Mit 37 Prozent konnte die SPD die meisten Erststimmen auf sich vereinen, gefolgt von der CDU mit 35 Prozent. Und die AfD kam immerhin auf sieben Prozent der Erststimmen.

Bekannt wurde die Stadt, deren wichtigste Sehenswürdigkeit eine mittelalterliche Burg ist, 2015, als sie sich bereitfand, verhältnismäßig viele Flüchtlinge aufzunehmen. Der festgelegten Quote entsprechend hätten 270 Flüchtlinge in Altena untergebracht werden sollen. Anders als viele Kommunen, die über die Belastung durch die Migranten klagten, entschied die Stadt aber, 100 weitere Migranten aufzunehmen. Die Bedingung, die Bürgermeister Hollstein der zuständigen Bezirksregierung Arnsberg dazu stellte, war: Es sollten Bürgerkriegsflüchtlinge sein, und möglichst Familien. Tatsächlich kamen dann 102 zusätzliche Flüchtlinge in die Stadt.

2016 sagte Hollstein im Deutschlandfunk, er bete dafür, dass die Kanzlerin bei ihrem Kurs in der Flüchtlingspolitik bleibe. Er wolle seinen Kindern - er hat vier - kein Europa übergeben, an dessen Grenze Menschen an Zäunen verhungern würden.

Es gibt neben der Menschenfreundlichkeit in Altena ein weiteres Motiv, Flüchtlinge aufzunehmen: Die Stadt ist nach dem weitgehenden Verlust der Metallindustrie in den 70er Jahren von mehr als 30 000 Bürgerinnen und Bürgern auf 17 300 Einwohner geschrumpft. Schulen, Sportstätten und das Freibad wurden geschlossen. Wegen der Schulden schickte das Land sogar einen Sparkommissar in die Stadt.

Deshalb standen etwa zwölf Prozent der Häuser und Wohnungen dort leer - viel Platz, um die Flüchtlinge aufzunehmen. Bereits Ende 2014 hatte Hollstein deshalb die Idee, junge Familien aus Bürgerkriegsgebieten in Altena anzusiedeln - möglichst dauerhaft. Der Stadtrat ließ sich von seinem Projekt "Vom Flüchtling zum Altenaer Mitbürger" überzeugen. Auch in der Bevölkerung war die Bereitschaft groß, den Flüchtlingen zu helfen und für sie zu spenden - Möbel etwa.

Die Flüchtlinge, darunter viele Kinder, wurden nicht in einer zentralen Sammelunterkunft untergebracht, sondern auf Wohnungen im gesamten Stadtgebiet verteilt, wo es die Möglichkeit gibt, die Nachbarn kennenzulernen. Ehrenamtliche Sprachlehrer fanden sich, es wurde eine Kleiderkammer, ein "Café International" und ein Begegnungszentrum eingerichtet - und für jede Familie steht ein besonderer ehrenamtlicher "Kümmerer" bereit, der sie etwa bei Behördengängen oder zum Arzt begleitet. Der Wohnungsbauminister von NRW, Michael Groschek (SPD), bezeichnete Altena deshalb als bereits Ende 2015 als " Hauptstadt der Mutbürger".

"Jetzt nehmen wir erst recht Flüchtlinge bei uns auf"

Auch in Altena gab es allerdings Widerstand gegen die Pläne. Hollstein wurde beschimpft, erhielt Hassmails. Und im Oktober 2015 kam es zu einem Brandanschlag auf ein Haus, in dem zwei Flüchtlingsfamilien wohnten. Der von zwei Altenaer Bürgern auf dem Dachboden gelegte Brand konnte zum Glück schnell gelöscht werden. Einer der jungen Täter war ausgerechnet ein Feuerwehrmann. Die Männer wurden 2016 wegen schwerer Brandstiftung zu fünf und sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Bürgermeister Hollstein, der selbst Mitglied der Feuerwehr ist, beschrieb nach dem Anschlag die Stimmung in der Bevölkerung mit den Worten: " Jetzt nehmen wir erst recht Flüchtlinge bei uns auf."

Inzwischen sind hier etwa 450 Flüchtlinge gemeldet. Einige sind darunter, die extra von Essen nach Altena gezogen sind - Christen aus Syrien und Irak, die hier auf bessere Integrationschancen hoffen.

Im Mai 2017 wurde die Stadt von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem " Nationalen Integrationspreis" der Bundesregierung ausgezeichnet. Forscher der OECD haben sich neben Madrid, Paris und Rom auch Altena angeschaut, um zu lernen, wie Integration gelingen kann. Im September war Hollstein eingeladen, als Sprecher am " NYC Global Mayor Summit on Migration and Refugee Policy and Practice" teilzunehmen, einem Gipfeltreffen von Bürgermeistern aus aller Welt in New York.

Nach dem Anschlag auf ihn sagt Hollstein, viele in seiner Berufsgruppe würden sich fragen, wofür sie das alles eigentlich machten. Auch er würde sich das fragen. Aber "ich würde die Aufnahme (der Flüchtlinge; Anm. d. Red.) genauso wieder machen", sagt Hollstein. "Ich weiß, wofür ich's mache, und ich mach's auch weiter."

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