Missbrauch in der Kirche:Zucht und Orden

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Früher wurden hinter Klostermauern junge Männer zur Keuschheit gefoltert. Das System wirkt nach - heute fliehen sexuell unfähige Männer dorthin.

Martin Kutz

Martin Kutz, Jahrgang 1939, war bis 2004 Wissenschaftlicher Direktor an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Er lehrte Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

Die Diskussion zum Kindesmissbrauch tut so, als seien einzelne pädophile Priester und Erzieher das Problem. Möglich wurden die Taten jedoch auf der Basis eines Erziehungssystems, das religiös begründet und historisch gewachsen ist. Das, was heute den Abscheu einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft hervorruft, wurde im 17. und 18. Jahrhundert aus religiösen Gründen erfunden.

Ausbildung zur Gottwohlgefälligkeit

Dieses Erziehungssystem war eine Konsequenz aus Reformation und Gegenreformation. Als die theologischen Argumente unter den streitenden Konfessionen verfestigt waren, wurde das sogenannte gottwohlgefällige Leben zu einem genauso wichtigen Ausweis der Rechtgläubigkeit wie die Dogmentreue. In dieser Situation entwickelten die gegenreformatorischen neuen Orden der katholischen Kirche - allen voran die Jesuiten - ein Konzept zur gottwohlgefälligen Knabenerziehung für das aufstrebende französische Bürgertum. Der Historiker Philippe Ariès hat in seiner Geschichte der Kindheit schon vor Jahrzehnten diese Entwicklung geschildert.

Gottwohlgefällig, das hieß: ein katholisch dogmenfester Glaube, die Unterwerfung unter den Führungsanspruch der Kirche und - ein sexualfeindliches Leben. In einer Zeit, die ähnlich sexualisierte Alltagserfahrungen wie heute als normal empfand, bedeutete genau diese Welt die größte Anfechtung für den rechtgläubigen Menschen. Deshalb musste der junge Mensch aus dieser Welt herausgerissen und hinter hohen Internatsmauern vor ihrem Einfluss geschützt werden.

Da gleichzeitig das französische Bildungswesen völlig darniederlag, wurde dem Zögling eine für damalige Verhältnisse hochmoderne und solide Ausbildung geboten, die im Wesentlichen auf die Berufe des Priesters, Staatsbeamten und Richters vorbereitete. Die Ausbildung in diesen Kollegs braucht uns heute nicht zu interessieren, wohl aber die Erziehungsmechanismen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie damals junge Menschen zur Keuschheit geprügelt wurden.

Der Tagesablauf von fünf Uhr früh bis abends um neun war streng reglementiert: ein Wechsel von Gottesdienst, Unterricht und Arbeitsaufträgen. Kleidung und Schlafräume mussten aufs peinlichste gesäubert werden. Diese Reinlichkeitserziehung hatte nichts mit Hygiene zu tun, sie war rein religiös motiviert, sollte die von sexueller Beschmutzung reine Seele symbolisieren. Wer zur Toilette musste, durfte es nur unter Aufsicht. Es hätte ja sein können, dass der Schüler die Zeit zur Onanie benutzen oder sich heimlich mit einem anderen Schüler treffen würde.

Auch harmlose enge Bindungen an andere Schüler wurden im Keim zu ersticken versucht. Die Schüler schliefen zu Dutzenden in beleuchteten Schlafsälen. Eine Aufsichtsperson war immer im Raum. Sie hatte zu kontrollieren, dass die Schüler auch bei bitterer Kälte im Schlaf die Hände auf der Bettdecke hielten, um so zu verhindern, dass sie mit ihren Genitalien spielten. Musste nachts ein Schüler zur Toilette, hatte auch dann die Aufsichtsperson ihn zu begleiten.

Prügelstrafen endeten oft tödlich

Entscheidend ist, dass in diesem System die kleinste Verfehlung brutal bestraft wurde. Typisch für diese Zeit ist die Prügelstrafe, in einem Ausmaß, das heute unvorstellbar ist. Sie konnte durchaus zum Tode führen, was kaum auffiel, weil der Tod auch von jungen Menschen alltäglich war. Dazu kamen Dunkelhaft und das sogenannte Krummschließen von Händen und Füßen auf dem Rücken.

Die Knaben, die im Alter zwischen zehn und achtzehn Jahren diesem System ausgesetzt waren, lebten in permanenter Angst, wegen Kleinigkeiten rabiat bestraft zu werden. Ihnen war jeglicher Kontakt mit der Außenwelt verboten. Sie sahen über Jahre hinweg kein weibliches Wesen, und schon gar nicht ihre Eltern und Geschwister. Die Isolation war nahezu perfekt.

Und das alles passierte pubertierenden Knaben, die unter solchen Bedingungen größere Schwierigkeiten haben mussten, mit ihrer erwachenden Sexualität umzugehen. Emotionale Bindungen konnten nur heimlich aufrechterhalten werden, Sexualität musste sich in Onanie oder homoerotischen Beziehungen ausleben. Beides war unter bestialische Strafen gestellt, war trotzdem allgegenwärtig und zusätzlich mit existentieller Angst besetzt, die mit religiösen Argumenten künstlich gesteigert wurde.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie dieser gewaltsame Erziehungsstil in ganz Europa Verbreitung fand.

Einziger Ausweg war die Verdrängung von Sexualität, der Hoffnung auf Freiheit und Eigenständigkeit. Nun weiß man seit Freud: Einstellungen und Verhaltensmuster, die an einen der stärksten Triebe des Menschen, den Sexualtrieb, gekoppelt sind, werden bei Verdrängung der konstitutiven Erfahrungen unrevidierbar zur Charakterausstattung dieses so konditionierten Menschen.

Das Ergebnis dieses brutalen Erziehungsprozesses waren Männer, die gehorsam und diszipliniert bis zur Selbstaufgabe waren, den Dogmen der katholischen Kirche unhinterfragt zustimmten, von einem Reinlichkeitszwang beseelt waren und einen extremen Hang zur Mystifizierung hatten.

Letzteres hatte gerade für die katholischen Vorstellungen von Priesterweihe, Abendmahlmystik, kirchlichen Ritualen und Heiligenverehrung eine zentrale Bedeutung, weil hier die Gefahr rationaler Sinnnachfrage am größten und durch Reformation und später die Aufklärung problematisiert worden war.

Auch "positive" politische Nebenfolgen dieser Erziehung gab es. Die so geprägten Männer wurden loyale Beamte des absolutistischen Königtums, und das Militär kopierte schon bald das Erziehungsmodell in den Kadettenanstalten in ganz Europa, nicht zu vergessen die protestantischen geschlossenen Anstalten.

Flucht in geschlossene Systeme

Außerdem bekam die Kirche sowohl pädagogischen Nachwuchs aus eigener Zucht als auch Zulauf zum Priesteramt und zu den neuen Orden. Auch der politische Aufstieg des Jesuitenordens ist mit diesem System aufs engste verknüpft.

Heute gibt es natürlich nicht mehr diese exzessive erzieherische Gewalt. Geblieben ist aber bis tief ins 20. Jahrhundert die Isolation von der Außenwelt, die Auslieferung an den Erzieher, der - sollte der ein Priester im katholischen Internat sein - mit besonderer Autorität versehen ist. Geblieben ist auch die Erziehung zu Dogmentreue, Gehorsam und Disziplin als Formen der Unterwerfung und letztlich die Erziehung zur katholischen Sexualmoral.

Wenn Amtsträger der Kirche die Übergriffe als Folge lascher Sexualmoral in der Gesellschaft beschreiben, verkehren sie Ursache und Wirkung. Der zum freien Umgang mit seiner Sexualität Unfähige flüchtet sich gerne in solche geschlossenen Systeme, übrigens nicht nur Katholiken.

© SZ vom 23.03.2010/leja - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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