Als Jean-Claude Juncker sich 2015 zum ersten Mal mit einer großen Rede an das Europäische Parlament wandte, waren seine Prioritäten klar. "Wir brauchen mehr Union in unserer Flüchtlingspolitik", sagte er, es brauche einen "grundlegenden Wandel" im Asylsystem. In wenigen Wochen wird ein neues EU-Parlament gewählt, und kurz darauf wird auch Junckers Amtszeit zu Ende gehen. Für den Streit, wie dieser grundlegende Wandel zu bewerkstelligen ist, gilt das nicht - im Gegenteil: Dieser Donnerstag werde "der Tag sein, an dem wir offiziell erklären, dass wir uns nicht auf ein Asylpaket einigen werden können", sagte ein Diplomat im Vorfeld des Innenministertreffens am Donnerstag.
Dabei hat sich die Situation seit 2015 vollkommen verändert: Im vergangenen Jahr kamen der Europäischen Kommission zufolge 150 000 Menschen auf illegalem Weg in die EU, 90 Prozent weniger als zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 und so wenige wie seit 2013 nicht. Die zentrale Mittelmeerroute vor allem über Libyen nach Italien, die in den vergangenen Jahren die meistgenutzte Route in die EU war, hat stark an Bedeutung verloren: Zahlen der Grenzschutzagentur Frontex zufolge kamen 2018 nur noch 23 000 Menschen auf dieser Route an, im Vorjahr waren es noch fast fünfmal so viele gewesen. Trotz aller Kritik an den Maßnahmen im Einzelnen zeigt die Flüchtlingspolitik der EU Wirkung.
Obwohl der Druck zur Reform also längst nicht so groß ist wie 2015 - oder vielleicht auch gerade deswegen - geht es bei der Überarbeitung des europäischen Asylsystems nicht voran. Die Gespräche der Innenminister am Donnerstag blieben auch diesmal ohne konkrete Ergebnisse. Und beim anstehenden EU-Gipfeltreffen Ende des Monats steht das Thema zum ersten Mal seit Jahren noch nicht einmal mehr auf der Tagesordnung.
Horst Seehofer (CSU) war mit einer Mission zu diesem letzten Innenministertreffen vor der Europawahl nach Brüssel gereist: "Wir sind für ein gemeinsames Asylpaket, aber es scheint so zu sein, dass dieses Regelwerk in dieser Legislatur nicht mehr verabschiedet werden kann", sagte er vor Beginn des Treffens. "Deshalb plädiere ich dafür, dass wir Teile dieses Regelwerks herauslösen."
Das Regelwerk, das er meint, besteht aus sieben einzelnen Gesetzen. Zielländer wie Deutschland oder die Niederlande haben ein Interesse daran, dass zumindest ein paar dieser Gesetze verabschiedet werden, etwa jene, die die Weiterreise von Asylbewerbern innerhalb der EU erschweren. So beklagt sich der niederländische Migrationsminister Mark Harbers in einem Brief an den zuständigen EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos über Migranten, die von einem Mitgliedsland zum nächsten reisten und einfach einen neuen Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat stellen würden, wenn sie beim ersten keinen Erfolg hätten. Es fehlten die Mittel, diesen Missbrauch des Asylsystems zu verhindern. Auch kämen viele Menschen in den Niederlanden an, ohne in einem anderen Mitgliedstaat registriert worden zu sein. Er schlägt darum vor, die Zugehörigkeit zum Schengenraum daran zu knüpfen, dass das jeweilige Land gewisse Asylregeln einhalte.
Vor allem die Visegrád-Länder weigern sich, an einer Verteilung von Migranten teilzunehmen
Tatsächlich dürfte es für einige der Gesetze, die Harbers meint, eine Mehrheit unter den Mitgliedstaaten geben. Aber beim Kernstück der Reform geht es nicht voran - der Überarbeitung der Dublin-Verordnung, die die Umverteilung von Asylbewerbern in der EU regelt. Vor allem die Länder der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei) weigern sich, an einer Verteilung teilzunehmen. Ohne eine solche Entlastung aber werden die südeuropäischen Länder kaum Gesetzen zustimmen, die es Migranten erschweren würden, diese Länder wieder zu verlassen. Das macht Seehofers Mission so schwierig, wenigstens Teile der Asylreform zu verabschieden - auch wenn er sich nach dem Ministerrat verhalten optimistisch zeigte, dass das vor der Wahl doch noch gelingen könnte.
Der Streit um die Verteilung der Asylbewerber ist so festgefahren, dass sich nicht einmal für jene Migranten eine Lösung finden lässt, die von Schiffen aus dem Mittelmeer gerettet werden, auch wenn Deutschland und Frankreich andere Mitgliedstaaten schon seit einer Weile umgarnen, wenigstens für diese Fälle einem Verteilmechanismus zuzustimmen.
Angesichts dieser Lage hält es ein Diplomat fast schon für eine Erleichterung, dass die Asylreform beim Gipfel Ende des Monats nicht auf der Tagesordnung steht: "Wir hätten sowieso nichts zu besprechen."