Migration:"Den Schleusern passiert nichts"

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Das UN -Flüchtlingshilfswerk fordert einen härteren Kampf gegen Menschenschmuggler in Libyen.

Interview von Andrea Bachstein

SZ: Drehscheibe der Flucht- und Migrationsflüsse im zentralen Mittelmeer ist Libyen. Die Lage der Migranten dort ist verheeren , die Kriegsereignisse haben das verschlimmert .

Cochetel: Das ist so. Es reden aber alle nur von den Menschen in Internierungszentren. Doch viele Flüchtlinge und Migranten sind außerhalb, sind vom Krieg betroffen und in Gefahr, entführt zu werden von Menschenhändlern. Sie brauchen Hilfe.

Wie viele Migranten und Flüchtlinge sind in Libyen?

Amtliche Zahlen gibt es nicht, beim UNHCR gehen wir gehen von 650 000 aus, vor dem Bürgerkrieg waren es zwei Millionen. 65 Prozent von ihnen sind in Libyen am Ziel, sie wollen dort arbeiten. Und 60 Prozent kommen aus den vier Nachbarländern.

Wie viele sind Flüchtlinge im engeren Sinn, nicht Arbeitsmigranten?

Ihre Zahl ist gering, 45 000.

Und wie viele sind in Lagern?

In offiziellen Zentren sind rund 5000 Menschen. Zwei Drittel Flüchtlinge, ein Drittel Migranten.

5000 erscheint wenig.

Das sind die offiziellen Zentren. Es gibt auch Lager, die Schleuser betreiben. Da haben wir keinen Zugang. Durch die neuen Konflikte ist es noch schwieriger, sich zu bewegen, auch wegen krimineller Banden.

Was treffen sie an in den offiziellen Camps?

Sehr frustrierte Leute, sie fühlen sich im Stich gelassen. Sie stellen sich vor, wir könnten alle rausholen und nach Europa fliegen. Das geht natürlich nicht. Es gibt zwei Kategorien: Die einen wollen per Boot nach Europa, werden aufgegriffen und in die Zentren gebracht. Andere zahlen Menschenhändler, um in offizielle Camps zu gelangen. Sie hoffen, das UNHCR siedelt sie um. Das pervertiert das System. Wir müssen uns daher mehr um die kümmern, die nicht in Zentren sind.

Und wie?

Vor allem bieten wir medizinische und psychologische Hilfe, unterstützen sie bei der Bürokratie. Wir möchten sie mit etwas Bargeld versorgen, damit sie sich Unterkünfte besorgen können, das ist sonst schwierig. Und bei Evakuierungen wollen wir künftig die Hälfte der Leute aus Zentren holen, die Hälfte von außerhalb. Derzeit sind 80 Prozent aus den Zentren.

Was heißt Evakuierung? Resettlement, Ansiedlung, Eingliederung in andere Länder?

Wir bringen die Leute nach Niger und Ruanda. Das ist teilweise Resettlement. Es sind aber viele Minderjährige dabei, da versuchen wir Familienzusammenführung. Das kann im Herkunftsland sein oder anderswo, aber ja nach Umständen auch in Ruanda oder in Europa. Wir suchen die besten Lösungen für die Kinder, und das ist nicht immer, sie nach Hause zu bringen. Das waren dieses Jahr 3000 Menschen. Das ist nicht genug. Aber wir dürfen nach Niger und Ruanda nur 1500 Leute bringen.

Lassen sich die Leute gern auf das Resettlement ein?

Es ist nicht schwer, sie zu überzeugen. Sie erleben in Libyen die Hölle. Die Lage ist schlimmer, seit im April Kämpfe zwischen General Chalifa Haftars Truppen und denen der anerkannten Regierung in Tripolis begonnen haben. Es ist noch schwieriger, zu den Menschen zu gelangen, sich in und um die Hauptstadt zu bewegen. Viele Libyer sind vertrieben, die Versorgung mit Wasser und Strom ist verschlechtert, die Konflikt hat Folgen für viele Menschen. Das Land braucht eine politische Lösung. Humanitäre Helfer können einiges tun, aber wir können das Land nicht in Ordnung bringen.

Zum Szenario gehört Libyens Küstenwache. Vor allem private Organisationen (NGOs) für Seenotrettung kritisieren, dass sie teilweise gemeinsame Sache macht mit Schleusern, Bootsflüchtlinge eher in Gefahr bringen, als zu helfen , Retter bedrohe. Die Küstenwache wird mit EU-Hilfe aufgerüstet und ausgebildet.

Die meisten in der Küstenwache sind ordentliche Leute, reguläre Marineangehörige, die versuchen, ihre Arbeit zu tun. Es ist sinnvoll, sie auszubilden, es müssen weiterhin Menschen gerettet werden. Aber es gibt Elemente, die wie Küstenwache fungieren oder Teil von ihr sind, die ihre Verbindungen mit den Schleusern nicht gekappt haben. Manche tragen Uniform. Die kommen natürlich nicht in Ausbildungsprogramme. Die Aufklärungsdienste wissen eigentlich, wer wer ist. Einige, die nicht zugelassen sind für die Ausbildung, tun aber weiter Dienst, das ist das Problem. In Zawiya im Westen wurde einer Chef der Küstenwache, der auf der UN-Sanktionsliste steht, weil er als Schleuser gilt. Mir wurde berichtet, dass Küstenwachmänner bedroht wurden, ihren Familien geschehe etwas, sollten sie abends zum Dienst gehen. Sie gingen nicht.

Und die Schlepper hatten freie Fahrt.

Vermutlich. Die libysche Gegenwart ist kompliziert. Bei jüngsten Vorfällen, als ein Rettungsteam bedroht wurde, handelte es sich wohl nicht um offizielle Küstenwache, sondern eine bewaffnete Gruppen, die Schiffe hat. Aber es ist sinnvoll, die Libyer weiter auszubilden. Die geografische Lage ändert sich nicht, es werden dort weiter Menschen gerettet werden müssen. Aber Ausbildung und Ausrüstung für die Küstenwache sollte an Bedingungen geknüpft sein. Etwa, dass Menschen, die an Land gebracht werden, nach internationalen Vorschriften behandelt werden. Manche kommen wieder in Lager, manche tauchen unter, andere werden Menschenhändlern verkauft.

Ein Angehöriger der libyschen Küstenwache auf einem Flüchtlingsschiff. Manche der Mitarbeiter sollen enge Kontakte zu Schleusern haben. (Foto: Taha Jawashi/AFP)

Es machen sich deutlich weniger Menschen mit Booten nach Italien auf, bisher kamen rund 10 000 dort an. Wie sehen Sie die Rolle der NGO-Retter ?

Die NGOs füllen eine Lücke. Wir haben ja den seltsamen Zustand, dass die Eunavfor-Mission (Operation Sophia) jetzt ohne Schiffe ist. Wir würden uns EU-Schiffe wünschen, aber es gibt keine politische Einigkeit. Solange ist es wichtig, dass die NGOs diese Lücke füllen, dass auch Handelsschiffe Flüchtlingen zur Hilfe kommen. Wir müssen aber kohärent sein - die NGOs retten Leute, dann brauchen wir einen Aufnahmemechanismus für Gerettete in der EU. Das muss besser und schneller funktionieren. Und wir müssen ehrlich sein: Nicht jeder Gerettete ist ein Flüchtling. Wer keine Aussicht auf Asyl hat, muss schnell ins Herkunftsland zurückgebracht werden. Es gibt keinen Grund, Leute in monate-, manchmal jahrelange Asylverfahren zu schicken, die eindeutig kommen, weil sie hoffen, in Europa zu arbeiten, Fußballer zu werden, zu Verwandten zu gehen. Das kann man teilweise schon in ersten Gesprächen bei der Aufnahme feststellen. Die Vorstellung, dass alle bleiben können, ist nicht realistisch. Das System ist nicht glaubwürdig, wenn am Ende alle dableiben.

Es gab Ide en, auf der nordafrikanischen Seite des Mittelmeers Zentren einzurichten, um schon dort Asyl-Aussichten zu beurteilen und um den Menschen die Gefahr der Überfahrt in Schlepperbooten zu ersparen.

Wir sind nicht für solche Zentren in Nordafrika, das wird nicht funktionieren. Wir sind für einen funktionierenden Verteilmechanismus, der solidarisch ist mit den Ankunftsländern. Wir wollen auch, dass die nordafrikanischen Länder ihren Teil der Verantwortung übernehmen. Es ist ein Problem der Mittelmeerländer, nicht nur der europäischen. Einige Flüchtlingsboote aus Libyen sind auch in Tunesien gelandet. Es sollten mehr Länder in die Verantwortung treten. Aber dass Europa die Überprüfungsverfahren nach Nordafrika auslagert, das wird nicht funktionieren. Im Grunde ist diese Idee auch politisch tot. Dennoch sollten wir daran arbeiten, in Nordafrika Asylsysteme aufzubauen. Die Länder brauchen das. Sie sehen sich als Länder, aus denen Menschen emigrieren und als Transitländer für das südlichere Afrika. Sie sind aber auch Zielländer geworden. Alle, Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten. Auch Libyen sollte die Arbeitsmigration rechtlich regeln. Leute aus dem südlicheren Afrika gehen dorthin, arbeiten und bleiben. Bisher ist das nicht reguliert, keines dieser Länder hat eine Asylgesetzgebung, Rückkehrprogramme. Die nordafrikanischen Länder stehen im Grunde vor denselben Herausforderungen wie die Europäer.

NGOs wird vorgeworfen, wegen ihrer Präsenz machten sich mehr Flüchtlinge und Migranten nach Europa auf.

Die Schleuser sagen den Leuten immer "Ihr werdet gerettet", ob NGOs da sind oder nicht. Sie geben ihnen Boote, die nicht weit kommen, zu wenig Treibstoff. Was sollen wir machen - die Menschen einfach sterben lassen? Wir brauchen eine glaubwürdige Rettungskapazität, einen Mechanismus für die Verteilung, müssen mit nordafrikanischen Küstenwachen kooperieren. Und wir müssen Menschenschmuggler härter bekämpfen. Viele, die man kennt, bleiben völlig unbehelligt. Sie kassieren viel Geld, und den Schleusern passiert nichts.

Schwierig in Libyen, ohne handlungsfähigen Staat.

Es gibt Schleuser, die bringen ihr Geld aus Libyen heraus, reisen im Ausland, einige sind auch in Nachbarländern. Die müssen belangt werden. Das illegal verdiente Geld fließt in Libyens legale Wirtschaft. So wird es immer schwerer, ihrer Spur zu folgen.

Es ist in Libyen zu viel Geld im Spiel?

Ja, es ist Teil der Wirtschaft geworden. Einige Milizen, die Menschen schmuggeln, kämpfen für die offizielle Regierung. Die helfende Hand schlägt man eher nicht ab. Aber man muss diese Verbindung kappen, sie ist gefährlich. Diese Milizen sind sehr mächtig, was die Macht der Einheitsregierung untergräbt. Vor gut einer Woche wurden erstmals zwei Schleuser festgenommen. Das ist ermutigend. Man bekämpft intensiv Drogenschmuggel, Waffenschmuggel, Terrorismus, zurecht. Beim Menschenschmuggel geht man nicht genug vor.

Wir erschrecken über Schiffsunglücke, bei denen Migranten umkommen, vor allem zwischen Libyen und Italien, dieses Jahr sind es rund 700 Tote dort, 1000 im ganzen Mittelmeer. Aber was ist mit den Landrouten nach Libyen?

Keine Organisation kann derzeit an Libyens Südgrenzen. Aber wir haben viele Hinweise, dass auf dem Weg nach Libyen in der Wüste doppelt so viele Menschen sterben wie beim Versuch, von Libyen nach Europa zu gelangen.

© SZ vom 04.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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