Ausgerechnet Angela Merkel. Ausgerechnet die Technikerin der Macht und Meisterin der Stellschraubenpolitik steht seit Monaten lutherhaft da und sagt, sie könne nicht anders. Das Grundrecht auf Asyl muss bleiben, egal wie viele Menschen es begehren mögen. Es darf keine Obergrenzen bei den Flüchtlingszahlen geben. Die Grenzzäune auf dem Balkan sind nicht die Lösung des Problems, die kann es nur gesamteuropäisch geben.
Als dieselbe Angela Merkel vor fünf Jahren den Ausstieg aus der Atomenergie verkündete, galt dies als Beispiel dafür, wie schnell sich die Kanzlerin dem allgemeinen Stimmungswandel anpassen kann: Gerade erst hatte sie längeren Laufzeiten für die deutschen Kraftwerke zugestimmt; unter dem Eindruck der Katastrophe von Fukushima schwenkte sie um.
Ihre Kritiker sagen: Sie ist halsstarrig
Und jetzt? Jetzt bringt sie die CSU gegen sich auf, und Teile ihrer eigenen CDU; jetzt zeigt sie sich unbeeindruckt von zornigen Landräten und den Triumphen der AfD. Jetzt verhandelt sie mit einer Türkei, die Journalisten ins Gefängnis steckt, erträgt stoisch die sauren Mienen ihrer europäischen Partner, weigert sich, Erleichterung angesichts der geschlossenen Balkanroute zu zeigen.
Ihre Kritiker sagen: Sie ist halsstarrig und will nicht einsehen, dass sie einen Fehler gemacht hat. Man kann es aber auch so sehen: Sie steht zu der Politik, die sie für richtig hält, in allen Unwägbarkeiten. Und weil sie erkannt hat, dass ein Kurswechsel gegen ihre Überzeugung ihrer Glaubwürdigkeit und dem Vertrauen in die Politik insgesamt Schaden zufügen würde.
Die Lage, in der Angela Merkel steckt, erscheint zunächst einmal widersprüchlich. Stets verlangen die Bürger von Politikern wie ihr eine Haltung ab. Doch in jener Phase, da sie am konsequentesten, am klarsten und in sich glaubwürdigsten redet und handelt, rutscht sie in die tiefste Vertrauenskrise ihrer Amtszeit. Ausgerechnet da, wo Merkel Haltung zeigt, sagen die Leute, sie habe die Lage nicht im Griff. Es ist das Problem jeder Politik, die in einer Streitfrage eine Haltung, eine Grundeinstellung über das augenscheinlich Naheliegende stellt: Sie verliert an taktischer Beweglichkeit, bietet Angriffsflächen, schafft Gegner.
Dieses Problem ist nicht neu in der Geschichte der Bundesrepublik; die unterschiedlichsten Kanzler haben es in den unterschiedlichsten Fällen ausgehalten. Es gab den Streit um Konrad Adenauers Westbindung und um Willy Brandts Ostpolitik. Helmut Schmidts Ja zur Atomkraft und zum Nato-Doppelbeschluss wurden zur Geburtsstunde der Grünen, wie später Die Linke aus Gerhard Schröders Agenda 2010 entstand; auch Helmut Kohls Europapolitik rief gerade unter seinen eigenen Anhängern Befremden hervor. Dass politisch Verantwortliche gegen heftige Kritik etwas durchsetzen, von dessen Richtigkeit sie überzeugt sind, auch mit hohen politischen Kosten - das gehört zur Geschichte der Demokratie.
Diesmal allerdings ist die Lage für die Kanzlerin besonders schwierig. Die Flüchtlingskrise offenbart, wie sehr das Vertrauen zumindest eines Teils der Deutschen in die Politik, die Politiker, die Institutionen des Landes insgesamt gelitten hat. Das macht es schwieriger als zu anderen Zeiten, solche Streitfragen durchzustehen. Es hat sich ein diffuses "Die schaffen das nicht" übers Land gelegt, gespeist mehr aus Angstszenarien denn konkreten Nachteilserfahrungen. Aber es ist da.
Vertrauen, hat der Soziologe Niklas Luhmann gesagt, ist eine lebensnotwendige "Form der Reduktion von Komplexität". Ohne sie könnte der Mensch morgens sein Bett nicht mehr verlassen - eben weil er nicht jeden Tag überlegen kann, wer ihm Böses will, ob es sich noch lohnt, zur Arbeit zu gehen, oder ob heute Staat, Wirtschaft und Währung zusammenbrechen. Vertrauen ist aber auch ein flüchtiges Gut, umso flüchtiger, je schwieriger sich die Komplexität des Lebens und Weltzustands tatsächlich reduzieren lässt.
Übereinkunft mit Ankara:Wagenknecht geißelt Flüchtlingsabkommen als "schäbigen Deal"
Linke und Grüne zerpflücken den Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei. Doch es gibt auch Zuspruch - selbst aus der merkelkritischen CSU.
Der große Flüchtlingstreck, der nun vor den Toren Europas steht, speist sich aus kaum zu befriedenden Konflikten; er lässt Europas Bürger ahnen, dass es eine Kehrseite der Globalisierung gibt, deren Preis, wie auch immer, noch zu zahlen ist. Will dieses Europa weiter von der Würde jedes Menschen reden, wird das bisherige Leben hier sich ändern müssen. Vertrauen heißt in dieser Lage, sich einem schwankenden Boden anzuvertrauen.
Mehr als die Hälfte der Deutschen unterstützen Merkel wieder
Es liegt nahe, dass dies schwerfällt. Und es liegt auch nahe, dass die andere Form der Reduktion sozialer Komplexität attraktiv wird: die Reduktion durch Misstrauen. "Die da oben" verschweigen die Wahrheit, agieren als geschlossene Kaste. Aus dieser Reduktionsform leben die gängigen Verschwörungstheorien, von ihr profitiert zurzeit die AfD. Ein gewisses Maß an Misstrauen gehört zum gesunden Menschenverstand. Misstrauen als Prinzip der politischen Interaktion ist zerstörerisch.
Ein Kurswechsel der Kanzlerin wäre kein Mittel, diese Vertrauenskrise zu beenden; im Gegenteil. Wenn Angela Merkel als Opportunistin dastünde, die auf äußeren Druck hin ihre Politik geändert hätte - dann würde sie taktisch nichts gewinnen.
Inhaltlich müsste sie sich fragen lassen, wohin sie ihren Kurs geändert hat: Findet sie es jetzt gut, dass Menschen in Griechenland hoffnungslos im Schlamm sitzen? Dass in Europa sich jeder selbst der Nächste ist?
Es bleibt ihr wenig übrig, als ihrem Kompass zu folgen, auch wenn die Wege verschlungen sind und man sich durchs Gestrüpp der Unwägbarkeiten schlagen muss, über die wackligen Brücken wenig schöner Kompromisse. Wahrscheinlich war es Angela Merkels Fehler, diese Unwägbarkeiten hinter dem großen "Wir schaffen das" zu verstecken. Das hat Vertrauen gekostet, weil der Eindruck entstand, hier färbe die Politik die Wirklichkeit schön. Die Kanzlerin hat sich dieses Vertrauen wieder mühsam erarbeiten müssen. Aber es kommt zurück. Mehr als die Hälfte der Deutschen unterstützen wieder Merkels Politik. Das ist insofern eine gute Nachricht, weil sie heißt: Eine Politik, die sich an einem Ethos orientiert, ist möglich, auch in Zeiten geringer Sichtweite. Vielleicht wird man das einmal ausgerechnet über eine Kanzlerin sagen, die einst als Technikerin der Macht galt.