Medwedjew über Russland:"Zurückgeblieben und korrupt"

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Heftige Schelte vom Präsidenten: In einer Kolumne will Dmitrij Medwedjew die Russen aufrütteln - doch der Weckruf liest sich wie eine Abrechnung.

Die verblichene Weltmacht Russland liebt noch immer die große Geste und die patriotische Pose. Militärparaden und Machtdemonstration gehören zum guten politischen Ton, Ministerpräsident Wladimir Putin inszeniert sich mal als angelnder Naturbursche, mal als zupackender Regierungschef.

Der Präsident von Putins Gnaden, Dmitrij Medwedjew, brach bereits wiederholt mit dem Klischee. Im vergangenen Jahr klagte Medwedjew öffentlich, die Korruption habe sich zu einem "strukturellen Problem" in Russland entwickelt. "Es ist Zeit zu handeln! Wir können nicht länger warten!" kündigte er damals an. Auch gegen den Alkoholkonsum will Medwedjew bereits seit längerem vorgehen. Im Juli kündigte er ein mehrstufiges Programm gegen Alkoholismus an.

Doch so deutlich wie in einem Beitrag für die Internetzeitung Gazeta.ru ist Russlands Präsident noch nie geworden: Russland sei ein "zurückgebliebenes und korruptes Land", habe eine "primitive" Wirtschaft, und eine "schwachen Demokratie" mit einer Bevölkerung, der es an Initiative fehle.

Russland sei es in den vergangenen 20 Jahren nicht gelungen, sich von der "erniedrigenden Rohstoffabhängigkeit" zu befreien, und seine Wirtschaft ignoriere wie zu Sowjetzeiten die Bedürfnisse des Menschen, heißt es in der "Vorwärts Russland!" betitelten Kolumne.

Medwedjew rief seine Landsleute auf, gegen Korruption, Passivität und Trunkenheit anzugehen und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen statt den Staat für die eigenen Probleme verantwortlich zu machen. Er kritisierte zugleich, dass auch viele Unternehmer mehr auf Schmiergeldzahlungen setzten als nach "talentierten Erfindern" zu suchen, "einzigartige Technologien" einzuführen sowie innovative Produkte zu entwickeln und auf den Markt zu bringen.

"Reporter ohne Grenzen": Kaum unabhängiger Journalismus

Angesichts solcher Selbstkritik verblassen die Vorwürfe im jüngsten Bericht "Reporter ohne Grenzen" zur Pressefreiheit in Russland fast. Die Organisation prangert an, dass unabhängiger Journalismus in Russland nach wie vor eine Seltenheit sei. Die Presse leide enorm unter wirtschaftlichen Zwängen.

Viele russische Medien könnten nur durch finanzielle Zuwendungen von staatlichen Stellen, Politikern oder Unternehmern überleben, heißt es in dem Bericht. Die Freiräume für eine kritische Berichterstattung seien in den vergangenen Jahren nicht größer geworden. Wegen der Abhängigkeit von den Geldgebern würden Missstände wie Korruption von vielen Medien nicht aufgegriffen.

Verlautbarungsorgane staatlicher Institutionen

In dem 80-Seiten-Bericht, der sich auch mit der Entwicklung in Regionen außerhalb der Hauptstadt Moskau befasst, heißt es wörtlich: "Wer die Musik bezahlt, bestimmt, was gespielt wird" - die meisten russischen Journalisten hätten sich an diese Regel gewöhnt. Die wirtschaftlichen Verhältnisse zwängen viele Medien in eine Rolle, die der sowjetischen Tradition entspreche: "Sie verstehen sich als Verlautbarungsorgane staatlicher Institutionen."

© sueddeutsche.de/AFP/dpa/holz - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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