Sie könnte jetzt in ihrem kleinen Haus in Mecklenburg-Vorpommern sein, in ihrem großen Garten, mit ihrem Hund. Frühlingswetter, Osterwoche, frische Luft, wenig Menschen, viel Abstand, kaum Gefahr.
Der Zweitwohnsitz auf dem Land wäre in diesen Zeiten des Virus deutlich sicherer als ihr Erstwohnsitz in Hamburg für Helga Hauchler, 78 Jahre alt, Raucherin, Hochrisikogruppe. Deshalb fuhr sie bereits am 6. März wieder nach Zarrentin am Schaalsee, in den abgelegenen Ortsteil Neuhof, wo sie seit 20 Jahren ihr Refugium hat. Doch statt in dem Dorf mit ein paar Hundert Einwohnern ist Helga Hauchler seit Anfang vergangener Woche wieder in ihrer Wohnung im zweiten Stock mitten in der Hansestadt, zwischen 1,8 Millionen Menschen - das sind mehr, als in ganz Mecklenburg-Vorpommern leben. Das Bundesland im Nordosten hat die Hamburgerin ausgewiesen. Wegen Corona.
Sie bekam vom Amt Zarrentin im Landkreis Ludwigslust-Parchim den Hinweis, dass Zweitwohnungsbesitzer ohne Erstwohnsitz oder berufliche Verpflichtung in der Region abzureisen hätten. Andernfalls seien Geldstrafen, ja sogar Freiheitsstrafen möglich. Die Verwaltung bezog sich auf die landesweiten Maßnahmen von Mecklenburg-Vorpommern "zur Bekämpfung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2". Eine Tochter von Helga Hauchler, Ärztin in Düsseldorf, schrieb den zuständigen Behörden: Es sei doch völlig unsinnig, ihre Mutter auf die Straße nach Hamburg zu schicken. Helga Hauchler bat per Mail ebenfalls um eine Ausnahmegenehmigung: Sie wäre ja komplett ungefährlich, sie war seit dreieinhalb Wochen in Neuhof. Umgekehrt würde sie sich durch einen Rückzug in die gut 70 Kilometer entfernte Großstadt selbst gefährden. Die Antwort: nein, sie müsse gehen. "Dann bin ich auch gegangen", sagt Helga Hauchler am Telefon. "Schweren Herzens."
Andere Bundesländer sind ähnlich streng, um das gleich klarzustellen. Auch Schleswig-Holstein und einige Landkreise in Niedersachsen warfen Eigentümer und Bewohner von Ferienhäusern oder Zweitwohnungen aus der Fremde fürs Erste hinaus. Für Touristen ist der Norden ohnehin bis auf weiteres tabu. Das Argument: Die Pandemie soll eingedämmt werden, und mit Urlaubern könnten die Krankenhäuser der Gegend überfordert sein. Wobei die Kieler Landesregierung das Verbot nach einer Beschwerde des Hamburger Senats einschränkte: Auch auswärtige Immobilieneigner dürfen in Schleswig-Holstein bleiben, wenn sie schon dort sind. Das beruhigt zum Beispiel Hamburger Villenbesitzer auf Sylt, sofern sie nicht abgereist waren; hinfahren darf man ohne Sondergenehmigung nicht mehr. Schwerins Maßnahmen seien "eben flächendeckend", wie Helga Hauchler gelernt hat.
Wo früher die deutsch-deutsche Grenze verlief, steht heute ein Sperrschild an der Landstraße
Ihr Fall zeigt, wie bizarr gut gemeinte Verordnungen auf dem gegenwärtigen Corona-Fleckenteppich Deutschland zuweilen ausfallen. Nach der Wende hat sich Helga Hauchler dieses Grundstück nordöstlich von Hamburg mit dem vormaligen "Haus des Gärtners" darauf gekauft, es liegt wunderbar am Rande von Neuhof, das zu Zarrentin am Schaalsee gehört. Preiswert, still und viel Natur. Seit Frau Hauchler als Lehrerin in Rente ging, wohnt sie immer mehr in diesem Idyll.
Den schönen Schaalsee mit seinen Bootshäusern und seinem Wald am Ufer durchzog früher die innerdeutsche Grenze, inzwischen ist es die Trennlinie von Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. "Hier waren Deutschland und Europa bis zum 18. November 1989 um 16 Uhr geteilt", steht auf einer Gedenktafel an der Landstraße. An einem Corona-Tag im April 2020 heißt es auf einem Schild dahinter: "Für touristische Verkehre im Land gesperrt!" Und wer durch die Gegend fuhr, den sprang vergangene Woche die Schlagzeile einer Boulevardzeitung an: "Einheimische schwärzen Fremde an!"
Die Polizei weist ungebetene Besucher ab, auch von anonymen Hinweisen ist die Rede. Ein Hamburger soll von Beamten den Auftrag bekommen haben, sein Domizil am Schaalsee binnen drei Stunden zu verlassen, sonst drohe "Schutzhaft". "Es ist entsetzlich, was sich hier für eine Wut entlädt", klagt eine Frau aus der Gegend. Dabei würden viele Erstwohnbesitzer ständig zur Arbeit nach Hamburg pendeln und eher das Virus mitbringen. "Ist das die Einheit?", stand über einem Leserbrief im Hamburger Abendblatt, in dem von "Denunziantentum, Ausgrenzung von ,Wessis' und Neid auf angeblich stinkreiche (Zweit-)Immobilienbesitzer auf dem ehemaligen Staatsgebiet der DDR" die Rede war. Skurrile Episoden werden allerdings auch aus anderen Teilen des Corona-zerstückelten Bundesgebiets gemeldet. Helga Hauchler weiß von einem Hamburger Nachbarn, der seinen Besitz an der Schlei in Schleswig-Holstein nur mit einer Art Tagesvisum betreten durfte, um die Heizung abzustellen. Es gibt auch vereinzelte Gerichtsentscheidungen für den Zweitwohnungsbann oder dagegen, wie kürzlich in Brandenburg. Und das rot-schwarz regierte Mecklenburg-Vorpommern schließt seine Inseln und Küsten über Ostern selbst für die eigene Bevölkerung. Wer hätte gedacht, dass man im Reiseland Meck-Pomm mal lesen würde, dass die Polizei leere Strände und Promenaden preist?
Inseln und Küsten sind über Ostern gesperrt, die Polizei preist die leeren Strände
Helga Hauchler hat von Bekannten von zwei Kontrollen in Techin bei Neuhof gehört, die Polizisten seien aber sehr freundlich gewesen. Sie verließ ihren Landsitz derweil freiwillig, verunsichert und wütend. Jetzt nimmt sie es hin, Hamburg sei ja kein Kriegsgebiet, "wir jammern auf recht hohem Niveau". Verstehen kann sie ihre Ausweisung trotzdem nicht, "das ist hilfloser Aktionismus". Klar, auf einer Insel wie Usedom könnte es bei großem Andrang derzeit Probleme geben, die großen Kliniken sind da recht weit weg. Aber Zarrentin am Schaalsee an der Naht von West und Ost, von wo man in einer Stunde in Hamburg und in 45 Minuten in Schwerin ist?
Stand Dienstag zählt Mecklenburg-Vorpommern laut Robert-Koch-Institut 528 und der Landkreis Ludwigslust-Parchim 54 Fälle von Covid-19. In Hamburg sind es 2993, die Quote pro 100 000 Einwohner ist fünfmal so hoch. Manche vertriebenen Ferienwohnungsbesitzer wollen fürs Erste zumindest ihre Zweitwohnungsteuer nicht mehr bezahlen, der Streit geht weiter. Vor ihrer Vertreibung kam sich Helga Hauchler kurz vor wie "Asylbewerber, die auf ihre Abschiebung warten". Aber nein, sagt sie, kein Vergleich, "mir geht's gut", sie führt ihren Hund jetzt in Hamburg aus.