Lübcke-Prozess:Die zwei Gesichter des Stephan Ernst

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Nach außen angepasst, laut Gutachter innerlich aber voller Hass: Der Hauptangeklagte im Lübcke-Prozess, Stephan Ernst, im Frankfurter Gerichtssaal. (Foto: Boris Roessler/dpa)

Der psychiatrische Gutachter glaubt dem Hauptangeklagten nicht, dass er sich von rechter Gewalt gelöst hat . Er führe zwar äußerlich ein angepasstes Leben, gleichzeitig aber habe er ein illegales Waffenlager angelegt und mit Schießübungen begonnen. Sein Hass auf Ausländer sei ungebrochen. Der Gutachter hält Ernst daher für voll schuldfähig.

Von Annette Ramelsberger, Frankfurt

War das nun ein Weinen? Mit heißen Tränen, Ächzen, tief aus der Seele? Oder führte der Angeklagte nur das Taschentuch an die Augen? War dieses "Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid", das der Angeklagte von seinem Anwalt erklären ließ, dreimal nacheinander, echt empfunden oder nur eine Inszenierung? Es sind Fragen, die sich an diesem Tag im Lübcke-Mord-Prozess vor dem Oberlandesgericht Frankfurt klären sollen.

Am Montag hatte die Witwe des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke den Angeklagten Stephan Ernst gerade noch einmal aufgefordert, der Familie die Wahrheit über die letzten Minuten im Leben ihres Mannes zu sagen. Und der hatte wieder geweint und gesagt: Es tue ihm leid, Tag für Tag. Und natürlich wolle er alle Fragen der Witwe beantworten, schob sein Verteidiger nach. Doch nun tritt der psychiatrische Gutachter in den Zeugenstand und gibt zu verstehen, da sei nicht mehr viel zu erwarten.

Norbert Leygraf, 67, ist seit vielen Jahren Psychiater, er spricht im Auftrag von Gerichten mit mutmaßlichen Straftätern, um zu klären, ob diese schuldfähig sind. Explorieren nennt man das. Im vergangenen Jahr hat Leygraf gleich zwei Angeklagte exploriert, die aufsehenerregende Straftaten begangen haben: den Attentäter von Halle, Stephan B. Und den mutmaßlichen Mörder von Walter Lübcke, Stephan Ernst. Beide Rechtsextremisten, beide überzeugt von ihrer Gesinnung. Allerdings hat Stephan Ernst im Gerichtssaal erklärt, er sei voller Reue über die Tat. Stephan B. dagegen bereute nur, in Halle nicht noch mehr Menschen getötet zu haben.

Es ist ein wichtiger Tag für Ernst. Seine Glaubwürdigkeit ist ja bereits erschüttert

Dem Attentäter von Halle hatte Leygraf bestätigt, dass er sofort wieder losschlagen würde, wenn er die Möglichkeit dazu habe. Sein Antisemitismus, sein Glauben an eine jüdische Weltverschwörung seien tief eingeschliffen in seine Persönlichkeit. Deshalb hielt er auch die Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung nach der Haft für gegeben. Aber wie steht es nun mit Stephan Ernst in Frankfurt? Dem Mann, der sagt, er habe sich von der rechten Szene entfernt, der sagt, erst sein Kumpel und Mitangeklagter Markus H. habe ihn wieder aufgeputscht und zurückgeholt in die Szene?

Professor Dr. Norbert Leygraf: Im vergangenen Jahr hat er gleich zwei Angeklagte exploriert. (Foto: RONNY HARTMANN/AFP)

Es ist ein wichtiger Tag für Stephan Ernst vor dem OLG Frankfurt. Das Gericht hatte bereits erklärt, dass es auf die Angaben von Ernst nicht sehr viel gibt, und hat deswegen auch seinen Mitangeklagten Markus H. auf freien Fuß gesetzt. Ernst hatte ihn beschuldigt, am Tatort dabei gewesen zu sein. Es geht um die Psyche von Ernst, und auch darum, ob der Gutachter ihn für so gefährlich hält, dass er zur Sicherungsverwahrung rät. Stephan Ernst in Frankfurt ist ganz anders als Stephan B. in Halle, aber möglicherweise genauso gefährlich.

Es geht gleich konfrontativ los. Ernst fühle sich nicht wohl, sagt sein Anwalt, er sei nicht verhandlungsfähig. Der Richter will ihn von Professor Leygraf untersuchen lassen, der ist ausgebildeter Arzt. Doch von dem möchte sich Ernst nicht untersuchen lassen. Leygraf als psychiatrischer Gutachter habe eine andere Rolle. Der Richter wird ärgerlich, ruft der Verteidigung zu: "Ich lasse mir von Ihrem Mandanten nicht vorschreiben, wann wir verhandeln." Das Gericht lässt Fieberthermometer und Blutdruckmessgerät bringen, Leygraf untersucht Ernst dann doch und findet keine Anzeichen für eine schwerere Erkrankung. Ernst kündigt einen Befangenheitsantrag gegen das Gericht an. Doch nun geht es mit dem Gutachten los.

Leygraf ist ein sehr ruhiger, zurückhaltender Mann. Er spricht langsam, doch was er sagt, ist prägnant. Insgesamt neun Stunden hat er sich im Januar mit Ernst unterhalten, er hat ihn als höflich erlebt, aber sehr reserviert. Nie sei es zu einem offenen Gespräch gekommen. Ernst habe zwar viel geredet, aber er habe den Eindruck gewonnen, Ernst wolle mit vielen Worten wenig Konkretes von sich geben, sagt Leygraf. Dafür ist er selbst umso konkreter.

Der Gutachter zeichnet das Bild eines Menschen, der seit seiner Jugend ausländerfeindlich ist

Zu allererst: Alles spricht dafür, dass Ernst voll schuldfähig ist. Aber dann wird es interessant. Für Psychiater Leygraf ist Stephan Ernsts Leben gezeichnet von einer "Zweispurigkeit", man könnte auch sagen, er spricht über einen Mann mit zwei Gesichtern. Äußerlich, so der Psychiater, führte Ernst ein angepasstes, integriertes Leben, war 16 Jahre lang geschätzt beim gleichen Arbeitgeber, heiratete, wurde Familienvater, kaufte ein Haus. Äußerlich habe er sich von der Gewalt gelöst und eher zu AfD und Pegida tendiert. Gleichzeitig aber habe er ein illegales Waffenlager angelegt und mit Schießübungen begonnen. Und mit den Planungen, Walter Lübcke zu töten, weil der sich für die Unterbringung von Ausländern einsetze.

Leygraf zeichnet das Bild einer Persönlichkeit, die seit ihrer Jugend ausländerfeindlich sei und das auch nie abgelegt habe. Die Verteidigung hatte ausführlich erklärt, Ernst habe sich nur deswegen ausländerfeindlich gezeigt, um seinem prügelnden Vater zu gefallen, um etwas Gemeinsames zu haben.

Leygraf sagt, ihm gegenüber habe Ernst die Ausländerfeindlichkeit des Vaters gar nicht erwähnt. Seit seiner Jugend sei der Hass auf Ausländer in seiner Persönlichkeit verankert. Schon als Jugendlicher habe Ernst sich das Wort "Hass" auf den linken Handballen geätzt. Nach einem Mordversuch an einem türkischen Imam 1992 bestätigte ihm ein Gutachter, er kultiviere den Hass auf Ausländer, statt sich mit dem eigenen Scheitern auseinanderzusetzen. Auch in der Haft habe er wieder zwei Gesichter gezeigt, sagt Leygraf: Einerseits absolvierte er erfolgreich eine Psychotherapie und eine Berufsausbildung. Andererseits schmiedete er Rachepläne und wob enge Beziehungen zu rechtsextremen Mitgefangenen.

Er zweifelt an seiner Aufrichtigkeit. "Gefühle zeigt der Angeklagte nur auf Zuruf", sagt er

Leygraf zweifelt an der von Ernst betonten Abkehr von rechter Gewalt. Diese Haltung habe sich nie geändert, auch nicht, als er gute soziale Bedingungen hatte mit Frau, Job, Haus, Kindern. Leygraf sieht einen deutlichen Hang des Angeklagten dazu, weitere Straftaten zu begehen, vor allem, wenn sich bestätigt, dass Ernst auch verantwortlich ist für den Messerangriff auf einen irakischen Flüchtling 2016. Dann begehe Ernst nicht nur lange geplante Taten wie den Mord an Walter Lübcke, sondern sei fähig, auch spontan zuzuschlagen. Was Leygraf da sagt, bedeutet: Sicherungsverwahrung.

Und das Schluchzen? Die Verzweiflung des Angeklagten angesichts des Leids der Familie Lübcke? Leygraf sagt, er habe Ernst während der Exploration nur einmal bewegt gesehen, da ging es um den gewalttätigen Vater. Sonst sei er die ganze Zeit reserviert gewesen. "Diese Zurückhaltung änderte sich auch nicht, als es um das Leid der Familie Lübcke ging." Ernst habe die Tat in der polizeilichen Vernehmung zwar als "unverzeihlich" bezeichnet, aber mit "geringer affektiver Beteiligung". Wenig authentisch sei das, sagte Leygraf. "Gefühle zeigt der Angeklagte immer nur auf Zuruf."

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