Langsame Justiz:Gutes Recht ist schnelles Recht

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Weil zu viele Richter trödeln, will die Justizministerin die Bürger vor überlangen Gerichts- und Ermittlungsverfahren schützen. Mit Verzögerungsrügen und Wiedergutmachungen soll die Justiz künftig angetrieben werden können.

Heribert Prantl

In der Zeit, als Goethe Praktikant am Reichskammergericht zu Wetzlar war, gab es noch kein Grundgesetz mit der Garantie eines effektiven Rechtsschutzes. Es gab auch keine Europäische Menschenrechtskonvention, die in Artikel 6 das "Recht auf ein faires Verfahren" gewährt und in Artikel 13 verspricht, das es zur Durchsetzung dieses Rechts "eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz" gibt.

Es gab damals nur einen großen Dachboden, auf dem die Akten mit Schnüren aufgehängt wurden. Waren die Schnüre durchgefault, fielen die Akten herunter - und wurden von den Richtern bearbeitet. Wohl auch deshalb wurde das Reichskammergericht, das von 1495 bis 1806 amtierte, Reichsjammergericht gescholten.

Heute gibt es in Deutschland etwa 20.000 professionelle Richter, das sind 24 Richter für hunderttausend Einwohner und damit die höchste Richterdichte weltweit; es gibt auch die genannten Rechtsgarantien - aber: über viel zu langsame Gerichtsverfahren wird noch immer geklagt. Diese Klagen sind nach den statistischen Durchschnittswerten über die Dauer der Prozesse in Deutschland nicht unbedingt berechtigt.

Aber es handelt sich eben nur um Durchschnittswerte: Dem Vater, der sieben Jahre auf die Entscheidung über sein Sorgerecht warten muss, hilft der Verweis wenig, dass bei Familiengerichten die Prozesse durchschnittlich nur acht Monaten dauern. Bei den Verwaltungsgerichten ergibt sich die erstinstanzliche Prozessdauer von 12,3 Monaten im Bundesschnitt aus höchst unterschiedlichen Werten: im schnellen Bundesland Rheinland-Pfalz dauern die Verfahren 5,1 Monate, im langsamen Brandenburg 32 Monate.

Durchschnittswerte sind kein Indiz für Recht und Gerechtigkeit. Auch die Bundesjustizministerin kennt den Satz mit den Bratwüsten: wenn einer zwei Bratwürste isst, der andere aber keine, hat jeder durchschnittlich eine Bratwurst gegessen, obwohl der eine hungrig ist und der andere satt.

Der Gesetzentwurf, den nun Sabine Leutheusser-Schnarrenberger vorgelegt hat, will dafür sorgen, dass bei der deutschen Justiz alle satt werden: Es soll künftig "für überlange Gerichtsverfahren einen Entschädigungsanspruch" geben, der "bei einer Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer dem Betroffenen die daraus entstehenden Nachteile ersetzt", wie es in Begründung heißt.

Das Gesetz soll für sämtliche Instanzen aller Gerichte gelten - für Zivilgerichte, Arbeits-, Verwaltungs-, Finanz-, Sozial- und Patentgerichte. Das Bundesverfassungsgericht hat der Bundesjustizministerin signalisiert, dass entsprechende Vorschriften auch beim höchsten deutschen Gericht in Karlsruhe gelten sollen.

Komplizierte Details

Das Verfassungsgerichtsgesetz soll, wie alle anderen Gerichtsordnungen, entsprechend geändert werden. Über die Wiedergutmachung entscheidet demnach als "Entschädigungsgericht" dasjenige Oberlandesgericht (OLG), in dessen Bezirk die säumigen Gerichte ihren Sitz haben. Wenn das Verfassungsgericht zu langsam entscheidet, soll über die Entschädigung eine Kammer urteilen, die aus Richtern beider Senate des Gerichts gebildet wird.

Die Einzelheiten sind nicht unkompliziert. Bereits im laufenden Verfahren muss eine "Verzögerungsrüge" erhoben werden. In dieser Rüge muss auf die materiellen Nachteile, die durch die Verzögerung entstehen (zum Beispiel durch Kreditfinanzierungen) konkret hingewiesen werden. Die Gerichte sollen auf diese Weise aufgefordert werden, selbst für eine Beschleunigung des Verfahrens und eine baldige Entscheidung zu sorgen um so Entschädigungszahlungen abzuwenden.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, woran der letzte Versuch einer Verkürzung der Verfahrensdauer scheiterte.

Frühestens drei Monate nach der Verzögerungsrüge, spätestens ein Jahr nach Rechtskraft der Entscheidung oder der sonstigen Erledigung des Verfahrens muss Klage auf Entschädigung beim Oberlandesgericht erhoben werden. Das OLG kann das Entschädigungsverfahren aussetzen, sofern und solange das als überlang gerügte Verfahren noch nicht abgeschlossen ist.

Bei seiner Entscheidung über eine Entschädigung berücksichtigt es "die Umstände des Einzelfalls", insbesondere "die Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens" und "das Verhalten der Verfahrensbeteiligten". So steht es im neuen Paragrafen 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes.

Entschädigung wird auch für Nachteile gewährt, die nicht finanzieller Natur sind, also für immaterielle Nachteile; zum Beispiel dann, wenn wegen der Verzögerung ein Elternteil keinen Umgang mit seinem Kind hatte. Das Entschädigungsgericht muss aber dann prüfen, ob nicht schon die Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, als Wiedergutmachung ausreicht.

Wenn das so ist, kann der Betroffene beantragen, dass dieser Spruch im elektronischen Bundesanzeiger bekannt gemacht wird. Allerdings sollen dabei (aus Datenschutzgründen) nur Gericht, Art des Verfahrens und Datum der Entscheidung bekanntgegeben werden, nicht Aktenzeichen und Namen der Verfahrensbeteiligten.

Der Widerstand der Justiz

In schweren Fällen gibt es eine Entschädigung durch Geld: ein Schmerzensgeld von hundert Euro pro Monat Verzögerung; aus Billigkeitsgründen kann dieser Betrag erhöht und gesenkt werden.

Für das strafrechtliche Ermittlungs- und Gerichtsverfahren sollen etwas eingeschränkte Regelungen gelten.

Wird das Oberlandesgericht angerufen, bevor das Strafverfahren zu Ende ist, muss das OLG sein Entschädigungsverfahren aussetzen und die Entscheidung des Strafgerichts abwarten. Es ist bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer an die Entscheidung des Strafgerichts gebunden.

Bei einer Verurteilung ist das Strafgericht schon nach den derzeit geltenden Regeln gehalten, eine lange Verfahrensdauer zugunsten des Verurteilten zu berücksichtigen.

Eine Entschädigung durch das OLG wird es also auch künftig nur dann geben, wenn nach allzu langem Verfahren der Beschuldigte freigesprochen (oder sein Verfahren eingestellt) wird, so dass das Strafgericht die lange Verfahrensdauer bei seiner Entscheidung nicht begünstigend berücksichtigen konnte.

Ein ähnliches Projekt wie jetzt das "Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren" war schon 2005 geplant, damals unter dem Namen "Untätigkeitsbeschwerde". Damals ging es freilich nicht um Entschädigung. Es sollte vielmehr bei berechtigten Beschwerden das höhere Gericht in die Tätigkeit des unteren eingreifen können.

Dieses Gesetz, das die damalige Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) beim Anwaltstag 2005 in Dresden vorstellte, scheiterte am Widerstand der Justiz. Dem neuen Gesetz werden von den Fachleuten bessere Chancen eingeräumt.

© SZ vom 08.04.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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