Krisenzeiten:Die Stunde des Staatsoberhaupts

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Wer Bundespräsident wird, das bestimmten oft die Kanzler - nach der Wahl im September könnte es umgekehrt sein.

K.-R. Korte

Im Herbst könnte das politische System der Bundesrepublik auf eine harte Probe gestellt werden: Falls die Bundestagswahl wieder nicht zu klaren Mehrheiten jenseits einer großen Koalition geführt hat, Union und SPD sich nicht auf ein Regierungsprogramm einigen können und die kleinen Parteien das Risiko neuer Bündnisse mit den Gegnern von einst scheuen.

Wer auch immer Bundespräsident wird - Gesine Schwan oder Horst Köhler -, nach der Wahl im Herbst könnte sie oder er eine ungewohnte Macht haben. (Foto: Foto: AP)

Dann schlägt die Stunde eines Verfassungsorgans, das bisher bei harten Entscheidungen kaum eine Rolle spielte: die des Bundespräsidenten (respektive der Bundespräsidentin).

Es wird dann nicht nur die weiche, kommunikative Führungsrolle des Staatsoberhaupts gefragt sein, sondern auch seine - meist kaum beachtete - harte Reservemacht für politische Krisen. Der Bundespräsident könnte zum Kanzlermacher werden.

Schon heute vernichtet die Finanz- und Wirtschaftskrise politische Gewissheiten in bisher ungekanntem Tempo. Wir erleben einen Epochenbruch, der den mit den Umbrüchen von 1989 zu vergleichen ist. Die Welt der Ökonomie hat ihre Leitfunktion für die Politik verloren.

Die McKinseys, Banker und Börsenanalysten haben nicht nur Milliarden verloren, sie sind auch moralisch bankrott gegangen. Das Primat der Politik kehrt zurück. Sie ist gefordert, um das entstandene Vakuum zu füllen.

Was wollen wir an unserer Demokratie und am Wohlfahrtsstaat unbedingt erhalten, wenn die Krise sich verschärft? Es reicht nicht mehr aus, immer nur auf die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft zu verweisen. Um das zu bestimmen, braucht man Ziele jenseits des Marktes.

Androhung von Öffentlichkeit

Denn der Markt ist immer nur Werkzeug, nicht aber Zweck. Warum ist es für unsere Demokratie wichtig, dass sich wieder Wachstum entwickelt? Diese Frage müsste beantwortet werden. Das Land braucht politische Führung.

Politische Führung erfolgt zunächst über Sprache. Die wichtigste Machtquelle des Bundespräsidenten war schon immer die Sprache. Weil das Staatsoberhaupt über den Parteien steht und eine Integrationsfunktion für alle sozialen Milieus und politischen Lager wahrnimmt, muss ihm jeder zuhören; kein politischer Spitzenakteur kann ihn einfach ignorieren.

Er könnte einen Kompass als Ausweg aus der Krise weisen. Horst Köhlers "Berliner Rede" vom März weist bereits in diese Richtung.

Seine Kompetenz beruht entscheidend auf seiner persönlichen Autorität. In der Öffentlichkeit kann er durch Reden Akzente setzen. Hinter verschlossenen Türen entfaltet sich seine Macht durch die Androhung von Öffentlichkeit. Wenn die Öffentlichkeit erst einmal weiß, dass der Bundespräsident in einer wichtigen Frage anderer Meinung ist als die Bundesregierung, kann sich die Bundeskanzlerin nur noch mit Gesichts- und Prestigeverlust den Wünschen des Staatsoberhaupts fügen.

Je populärer der Präsident, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die Bundeskanzlerin einen Konflikt mit ihm riskiert. Köhlers Umfragewerte geben ihm die Chance zur zweiten Kandidatur, nicht seine Beliebtheit in Berlin Mitte.

Die Rechte des Präsidenten

Doch auch formal könnte die Stunde des Präsidenten bald schlagen. Denn der Bundespräsident spielt im formalen System der politischen Willensbildung nur solange keine eigenständige Rolle, wie es stabile politische Mehrheiten gibt. Dies ändert sich schlagartig, wenn sich keine stabilen Mehrheiten für eine potentielle Regierung abzeichnen.

Seine hard power beruht auf Artikel 63 des Grundgesetzes. Für die Kanzlerwahl im ersten Wahlgang hat er das Vorschlagsrecht. Verfassungsrechtlich ist er weder personell noch zeitlich an Vorgaben aus dem Bundestag gebunden.

Wenn innerhalb von zwei Wochen nach weiteren Wahlgängen immer noch keine absolute Mehrheit für einen neuen Kanzler zustande kommt, kann der Bundespräsident entscheiden, ob er statt dessen einen mit einfacher Mehrheit gewählten Kanzler ernennt - oder ob er den Bundestag auflöst.

Köhlers Vorgänger Heinrich Lübke hatte im Umfeld der Bundestagswahl von 1965 den Parteivorsitzenden geschrieben und dabei sein unabhängiges Vorschlagsrecht für den ersten Wahlgang betont, da er mit undurchsichtigen Koalitionsmöglichkeiten nach der Wahl rechnete und eine große Koalition favorisierte.

Auch Roman Herzog spielte 1998 mit dem Gedanken, sein Vorschlagsrecht 1998 offensiv für einen unverbrauchten Alternativkandidaten zu nutzen, falls eine von der PDS geduldete rot-grüne Mehrheit zustande gekommen wäre.

Zufalls-Mehrheiten wahrscheinlich

Eine Regierungskrise, die den Bundespräsidenten fordert, ist nach der kommenden Wahl alles andere als unwahrscheinlich. Wie sich die Parteipräferenzen der Wähler verändern, wenn sich die Wirtschafts- und Finanzkrise weiter in ihren Alltag eingräbt, ist hoch spekulativ.

Die Wahlforschung gibt keine verlässlichen Aussagen über Wahlverhalten in Krisen. Wenn wir jedoch annehmen, dass generell der Anteil nutzenorientierter politischer Wechselwähler und stimmungsgetriebener unpolitischer Gesinnungswähler zunimmt, wird sich dieser Trend dieses Jahr eher verschärfen als abschwächen.

Parteienwettbewerb und Lagermentalität verlieren an Bedeutung, wenn Gewissheiten schwinden. Zufalls-Mehrheiten in einem Fünf-Parteien-System sind höchst wahrscheinlich.

Somit wachsen dem Bundespräsidenten ganz neue Möglichkeiten zu, falls im September die Mehrheiten unklar sind. Koalitionspartner müssen sich nicht nur einigen, sondern erst einmal finden. Einen Vorgeschmack auf so ein Szenario haben wir 2005 erlebt.

Wenn nicht die große Koalition die einzige Möglichkeit zur Regierungsbildung bleiben soll, muss möglicherweise auf den Präsidenten zurückgegriffen werden. Auf ihn könnte es ankommen, wenn sich keine Kanzlermehrheiten abzeichnen oder monatelange Verhandlungen programmiert sind, mitten in der Wirtschaftskrise.

Konvention und Verfassungsrecht

Wie lange soll der Bundespräsident darauf vertrauen, dass sich doch noch eine stabile Koalition findet? Wann wäre ein Vorschlag angebracht, eine unverbrauchte Kandidatin oder einen Kandidaten - also nicht die Spitzenkandidaten der Parteien im Wahlkampf - mit der Regierungsbildung zu betrauen?

Sicher wird er nur jemanden vorschlagen, bei dem er durch nicht-öffentliche Sondierung sicher ist, dass er auch tatsächlich eine Mehrheit organisieren kann. Der Kandidat muss kein Abgeordneter sein, erst recht nicht muss er der stärksten Fraktion angehören.

Nur innerhalb einer Koalition hat die stärkste Fraktion stets den Anspruch erhoben, den Kanzler zu stellen. Doch auch das ist nur Konvention, kein Verfassungsrecht.

Der Autor Karl-Rudolf Korte, Jahrgang 1958, lehrt Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Er ist dort Direktor der NRW School of Governance.

© SZ vom 18.04.2009/gal/odg - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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