Mit dem Zerfall der Sowjetunion ist auch das Narrativ des Museums zerfallen oder zumindest aus dem Tritt geraten. Die Lücken wurden sichtbar, mitsamt den Fragen, die nie gestellt werden konnten. Das Donezker Museum war ein Archetyp eines sowjetisch geprägten Heimatmuseums, das nicht die Chance bekommen hat, sich rundum zu erneuern. Aber es zeigte trotz aller Simplifizierungen die überwältigend reiche und dramatische Geschichte einer Stadt, die vom walisischen Industriellen und Bibelgläubigen John Hughes im Jahre 1869 gegründet und nach ihm Jusowka genannt wurde. Sie wuchs explosionsartig an. 1917 hatte sie 57 000, vor Beginn des Zweiten Weltkriegs 300 000 Einwohner. Im Jahre 1924 wurde Jusowka, eine kapitalistische Gründung, in Stalino umbenannt, und so hieß sie bis 1961, als sie im Zuge der Entstalinisierung ihren heutigen Namen - nach einem Nebenfluss des Don - bekam.
Natur war in Donezk immer mehr als Natur. Das Heimatmuseum zeigte geologische Erdschichten und die Bodenschätze, die Region und Stadt zu einem der bedeutendsten Zentren der Schwerindustrie gemacht hatten. Anthrazitkohle, Eisenerze, Grafit, Dolomit, Gips, Kaolin liegen hier in einer einzigartigen Verdichtung unter der Erdoberfläche. Flussläufe liefern das für die Verarbeitung notwendige Wasser und einen billigen Transportweg. An dem Diorama - auch dies eine spezifische Leistung der Museumskultur - konnte man sehen, wie Gruben und Eisenwerke zu Zentren einer Agglomeration von Industriedörfern geworden sind. Die Schachtanlagen prägen noch heute den Stadtraum, der im Übrigen von den englischen Planern des 19. Jahrhunderts im geometrischen Schachbrettmuster angelegt wurde.
Im Stadttheater "Stalino" inszenierte Toni Graschberger vom Münchner Staatstheater
Dazwischen findet sich alles, was für solche Städte aus "wilder Wurzel" notwendig war: neben den Werksanlagen die Villa des Direktors, der Feuerwehrturm, das Hospital, die Handelsschule, das Grand Hotel, die Bank und Kirchen und Bethäuser für all die Religionen, die mit den Arbeitsmigranten kamen: Russen, Ukrainer, Juden, Armenier, Tataren, Engländer, Schotten, Belgier, Franzosen, Deutsche. Jusowka, das zeigten die im Museum ausgestellten Firmenschilder, war ein Melting Pot aus 37 Nationalitäten, eine europäische Stadt. Da sind außer dem Hughes-Eisenwerk die Firma E.E.Olivier, die Firma Bosse des aus Estland eingewanderten Russobalten Eduard Bosse, belgische und französische Firmen. Der russische Gelehrte Dmitri Mendeleev sah hier bei seiner Inspektion des Donbass 1888 ein "kommendes Amerika".
Das Jusowka der Endzeit des Zarenreiches und der Revolution konnte man an den bürgerlichen Interieurs mit Kommode und Harmonium (es wurde jetzt beschädigt) ablesen, mit Noten von Johann Strauß und Gruppenbildern vom Kraftsportverein, bevor es hinübergeht in Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg mit einem Panzerzeug "Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg" aus Starokramatorsk, messingbeschlagenen Pickelhauben deutscher Besatzungstruppen, Fotos vom Einzug der Sozialbanditen des Anarchisten Nestor Machno und der Weißen Garde. Sie alle haben ihre Spuren in der Stadt hinterlassen - mit Plünderungen, Pogromen, Geiselerschießungen. Die 1920er-Jahre mit ihrem halbfreien Markt, dem raschen Wiederaufbau werden dargestellt als reichlich ausgestatteter Laden, mit den Insignien der Modernde, Eisenpflügen und Telefonapparaten auf dem Schreibtisch des roten Direktors.
Die Zerstörung des Heimatmuseums zielt, nachdem Wasserleitungen, die Kanalisation, der Flughafen, Bahnstationen und Straßenbahngleise zerstört worden sind, auf die Zerstörung der Identität der Stadt.
(Foto: dpa)Donezk blieb auch nach der Revolution der große Schmelztiegel der Sowjetunion. Einer, den es aus dem Kursker Gouvernement nach Donzek gezogen hatte, war Nikita Chruschtschow, der hier seine atemberaubende Karriere - unter anderem im Bosse-Betrieb - begann, zuerst als rebellischer Arbeiter, dann als Jungkommunist am Bergbau-Institut. Von Chruschtschow waren im Museum eine randlose Brille, ein goldener Füllfederhalter und ein melancholisches Bild als Pensionär zu sehen.
Diese Art von Museum gab es nur auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion
Bei allem Industrialisierungspathos hatte das Donezker Museum Platz für die großen Katastrophen der Sowjetukraine: die Zwangskollektivierung und den Holodomor, die Hungersnot von 1932/33 mit ihren Millionen Toten; in den Erläuterungen zu den Exponaten wird von "Genozid" gesprochen. Zu sehen waren Deportationsbescheide, Bilder von verhafteten Bauern, von Kindern, die auf abgeernteten Feldern nach Kartoffeln gruben, ärztliche Zeugnisse über die Symptome des Hungertodes. Auch gab es eine Abteilung über den Großen Terror in Stalino, dem 1937/38 circa 17 000 Menschen zum Opfer fielen, mit den Porträts von exekutierten Fabrikdirektoren, Gelehrten, Dichtern. In der deutschen Besatzungszeit wurde die Stadt zum Schlachtfeld. Die Gestapo hatte ihren Sitz im heutigen Donbass Palace, die Kommandantur war im späteren Theater-Café untergebracht. Im Stadttheater "Stalino" - das heutige Opernhaus an der Artjom-Straße - inszenierte Toni Graschberger vom Münchner Staatstheater "Coppélia" von Léo Delibes und den "Verklungenen Traum" nach Puschkin. Am Ende wurden auf den Stadtbrachen deutsche Soldatenfriedhöfe angelegt und Kolonnen Kriegsgefangener zogen durch die Ruinen. Später kamen in den Donbass verschleppte Siebenbürger Deutsche.
Am ausführlichsten waren in diesem Museum die Abteilungen über die Zeit nach 1945 gestaltet, vor allem die Amtszeit des "roten Managers" Wladimir Degtjarow, eines wohl auch beim Volk beliebten Provinzfürsten, dem die Stadt den großmaßstäblichen Wohnungsbau, Supermärkte, Sportstadien und Schulen verdankt. Neben "berühmten Söhnen der Stadt" wie Nikita Chruschtschow, dem Komponisten Sergej Prokofjew (nach ihm ist der jetzt zerstörte Flughaften benannt) und dem großen russisch-jüdischen Schriftsteller Wassili Grossman, ist Donezk auch auf Sportsleute wie den Stabhochspringer Sergej Bubka stolz.
Nun soll Donezk nach dem Willen eines selbsternannten Volkssturms, der die Stadt in seine Gewalt gebracht hat, sich entweder ergeben oder von der Karte gelöscht werden. Dies geschieht, mit Rückendeckung aus Moskau, in einem Augenblick, da man sich in Deutschland auf ein "Jahr der russischen Sprache und Literatur" vorbereitet. Es ist immer noch Zeit, die Tagesordnung aufzukündigen. Plünderung von Museen und die Zelebrierung eines Kulturjahres passen nicht zusammen.
Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel hat zuletzt bei Hanser "Grenzland Europa" veröffentlicht.