Mariupol-Evakuierung:"Unter unerbittlichem Beschuss und mit Todesangst"

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Dutzende Menschen schaffen es aus dem belagerten Mariupol heraus - nach Wochen in Bunkern ohne Toiletten, mit wenig Essen und Wasser. Manche hätten nach zwei Monaten erstmals wieder Tageslicht gesehen, berichten Helfer.

Nach einer wochenlangen Tortur in den Bunkern des belagerten Stahlwerks Asowstal und in der Umgebung sind mehr als 150 Kinder, Frauen, Kranke und Ältere in die Freiheit gelangt. Ein von humanitären Helfern organisierter Konvoi, dem das russische Militär freies Geleit zugesagt hatte, erreichte aus Mariupol kommend am Dienstag die Stadt Saporischschja etwa 230 Kilometer weiter nordwestlich. Viele Menschen hätten nach zwei Monaten in den Bunkern erstmals wieder Tageslicht gesehen, teilte die Ukraine-Beauftragte des UN-Nothilfebüros, Osnat Lubrani, mit.

Lubrani berichtete von emotionalen Momenten während der gefährlichen Reise. Ein sechs Monate altes Baby habe mit einem Grashalm gespielt, "das erste Mal in seinem Leben", wie dessen Mutter ihr gesagt habe. Aus dem Stahlwerk Gerettete hätten vor Freude geweint, als sie Verwandte wiedersahen, die in einem anderen Bunker Zuflucht gefunden hatten und von denen sie wochenlang nicht wussten, ob sie die verheerenden Bombardierungen überlebt hatten.

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Von Nicolas Freund

"Mütter, Kinder und Großeltern haben von dem Trauma erzählt, Tag für Tag unter unerbittlichem Beschuss und mit Todesangst zu leben", berichtete Lubrani. Es habe im Stahlwerk kaum Wasser oder Nahrungsmittel und völlig unzureichende Sanitäranlagen gegeben. Die Menschen seien durch die Hölle gegangen.

Das russische Militär bombardiert die ukrainische Hafenstadt Mariupol seit Wochen und hat sie weitgehend in Schutt und Asche gelegt. Unter den Geretteten waren nach Angaben des UN-Nothilfebüros auch 58 Menschen aus der Ortschaft Manhusch, westlich von Mariupol. Insgesamt seien 127 Menschen mit dem Konvoi in Saporischschja angekommen. Nicht alle seit Freitag aus dem Stahlwerk Geretteten hätten sich dem Konvoi angeschlossen. Der Leiter des ukrainischen Präsidialamts, Andrij Jermak, sprach von 156 Zivilisten aus Mariupol und Umgebung, die am Dienstag in Saporischschja angekommen seien.

Diese verletzte Frau aus Mariupol ist am Dienstag in Saporischschja angekommen. (Foto: Dimitar Dilkoff/AFP)

Einige der Ankommenden seien verletzt, berichtete das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), das den Konvoi mit Autos mit weißen Fahnen und rotem Kreuz darauf begleitet hatte. "Es ist eine riesige Erleichterung, dass einige Zivilisten, die wochenlang gelitten haben, nun draußen sind", sagte IKRK-Präsident Peter Maurer.

Sie stünden nun unter einem "furchtbaren Schock", berichtet der katholische Weihbischof von Charkiw-Saporischschja, Jan Sobiło. "Sie lebten lange in ständiger Anspannung und dachten: Ich werde sterben, ich werde nicht sterben." Sie seien dem "heute wahrscheinlich schrecklichsten Ort der Welt, Mariupol, entkommen", sagt der Geistliche. Dort habe man ein zwölfjähriges Mädchen erhängt und vergewaltigt gefunden, sogar zehnjährige Jungen und Mädchen seien massenhaft vergewaltigt worden. Praktisch bei jedem Haus und Wohnblock in Mariupol gebe es kleine Friedhöfe, auf denen Kriegsopfer begraben worden seien, sagt Sobiło. "Die Traumata werden wahrscheinlich ein Leben lang bleiben, denn das, was sie erlebt haben, ist so schrecklich, dass man es nicht beschreiben kann."

UN-Vertreterin Lubrani zeigte sich besorgt, dass Menschen anderswo in den von Russland angegriffenen Gebieten in einer ähnlich schwierigen Lage seien. Die Vereinten Nationen täten alles, um weitere Konvois zu organisieren. Zahlreiche Rettungsversuche waren in den vergangenen Wochen gescheitert, weil es keine Sicherheitszusagen gab. Auch müssten die weiterhin in den zerbombten Gebäuden in Mariupol ausharrenden Menschen dringend mit Wasser, Nahrung und anderen lebenswichtigen Gütern versorgt werden, sagte Lubrani.

Das Stahlwerk Asowstal in Mariupol - dort steigt am Dienstag Rauch auf. (Foto: -/dpa)

In Saporischschja waren die ukrainischen Gesundheitsbehörden sowie freiwillige Helferinnen und Helfer, Ärzte ohne Grenzen und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für alle medizinischen Notfälle der Ankommenden gewappnet, wie die WHO-Koordinatorin vor Ort, Dorit Nitzan, am Dienstag per Video zu Reportern in Genf sagte. "Wir sind eingestellt auf Verbrennungen, Knochenbrüche, Wunden, Infektionen, Durchfall, Atemwegsinfektionen, Unterernährung und die Bedürfnisse schwangerer Frauen - wir sind gut vorbereitet", sagte Nitzan. Schon in den vergangenen Tagen waren in der Stadt Menschen aus der Umgebung von Mariupol eingetroffen. Sie hatten keine größeren Verletzungen oder Krankheiten, waren aber traumatisiert. "Viele haben geweint", sagte Nitzan. Spezialisten hätten mit den Menschen erste Gespräche geführt. Viele seien von Verwandten abgeholt worden.

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