Mariupol:"Es ist die totale Katastrophe"

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Rauchwolken steigen über dem Stahlwerk von Mariupol auf, als dieser Anwohner am Montag in seiner Stadt unterwegs ist. (Foto: Valery Melnikov/Imago)

Nach den Evakuierungen am Wochenende scheiterten weitere Rettungsversuche in der Hafenstadt - und um das Stahlwerk wird wieder heftig gekämpft.

Von Nicolas Freund, München

Die Bilder und Nachrichten, die am Wochenende aus der belagerten ukrainischen Hafenstadt Mariupol kamen, hätte man noch vor einer Woche nicht für möglich gehalten: Das Rote Kreuz und die Vereinten Nationen bringen während einer Waffenpause etwa 100 Zivilisten aus dem Stahlwerk, in dem sich seit Wochen ukrainische Soldaten und Einwohner der Stadt vor den russischen Invasoren verschanzt hatten.

Videos der Evakuierung zeigen alte Menschen, Frauen und Kinder, die mit Leitern aus dem Keller eines Gebäudes klettern, das kaum mehr als ein Schutthaufen ist. Eine Frau erzählt von wackelnden Böden und einstürzenden Wänden. Sie träume von den Bomben. "Es gibt keine Worte dafür, wenn sich Kinder an dich klammern und Angst haben", sagt sie.

Diese nun plötzlich doch mögliche Evakuierung wirft allerdings auch die Frage auf, warum die vom Roten Kreuz und anderen Hilfsorganisationen geplanten Fluchtkorridore stets scheiterten - angeblich, weil es nicht möglich war, alle Truppen im Feld über eine Waffenruhe zu informieren.

Immerhin, dass nun eine Evakuierung durch die Vermittlung von UN-Generalsekretär António Guterres zustande gekommen ist, gibt Hoffnung, dass die oft als zahnlos titulierten Vereinten Nationen doch noch einen gewissen Einfluss auf Moskau haben. Auch Russland behauptet, Menschen aus dem Stahlwerk geholt zu haben. Videos in sozialen Netzwerken zeigen eine russische Soldatin, die Hilfsgüter an Kinder verteilt. Ob das Video wirklich in Mariupol entstanden ist, lässt sich nicht überprüfen.

100 000 Menschen sollen noch in der Stadt sein

Diese fast wie ein Wunder erscheinende Rettung vom Wochenende kann aber nicht kaschieren, wie katastrophal die Lage in der Stadt nach wie vor ist. Noch immer sollen sich Hunderte, wenn nicht Tausende Soldaten und Zivilisten in dem weit verzweigten unterirdischen Komplex des Stahlwerks aufhalten. Weitere Evakuierungen waren Anfang der Woche ins Stocken geraten, am Dienstag wurde das Werk wieder vom Land und vom Meer aus beschossen.

In Mariupol sollen sich nach Angaben des Bürgermeisters noch mehr als 100 000 Menschen aufhalten. Es gibt auch viele Berichte über Ukrainer, die gegen ihren Willen nach Russland verschleppt worden sein sollen. Moskau selbst behauptet, 1,1 Millionen Erwachsene und fast 200 000 Kinder auf eigenen Wunsch nach Russland gebracht zu haben.

Aufsehen erregte am Dienstag außerdem ein Interview mit Anja Wolz, der Koordinatorin des Ukraine-Einsatzes der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Sie sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe über die Lage in Mariupol: "Nach dem, was wir bisher an Informationen haben, lässt sich klar sagen: Es ist die totale Katastrophe." Die Kriegsverbrechen und Gräueltaten, von denen aus Butscha, Irpin und Hostomel berichtet wurde, könnten "nur die Spitze des Eisbergs" sein. Auf Nachfrage der Süddeutschen Zeitung relativierten Wolz und die Hilfsorganisation diese Aussage etwas: Man habe derzeit keine eigenen Helfer in Mariupol im Einsatz, die genannten Einschätzungen beruhten nicht auf eigener Anschauung, sondern sei bisher lediglich eine Befürchtung.

Die Menschen, die aus Mariupol evakuiert werden konnten, werden derweil in der etwa 230 Kilometer entfernten Stadt Saporischschja erwartet, wo sie medizinische Versorgung erhalten. Bisher seien die Flüchtlinge, die dort ankommen, nach Aussagen der Weltgesundheitsorganisation physisch in guter Verfassung. Nötiger scheint bei vielen die psychologische Betreuung zu sein, die ebenfalls angeboten wird.

Odessa wurde wieder mit Raketen angegriffen

Die seelischen Wunden sind nur eine Folge des Zermürbungskrieges, zu dem der Konflikt im Osten des Landes eskaliert ist. Die russische Offensive kommt kaum voran, gemeldet wird vor allem Artilleriebeschuss entlang der Frontlinie. Einige Nachrichten lassen vermuten, dass die russische Armee Schwierigkeiten hat, genügend Soldaten für die Kämpfe zu mobilisieren.

So sollen russische Truppen am Dienstagnachmittag erneut versucht haben, das Stahlwerk in Mariupol zu stürmen, da die ukrainischen Soldaten dort die Feuerpause genutzt hätten, um sich neu zu positionieren. Gleichzeitig seien aber auch russische Truppen aus der noch immer umkämpften Stadt abgezogen worden, um in der Region Luhansk eingesetzt zu werden. Analysten befürchten außerdem eine Ausweitung der Kämpfe im Süden des Landes. So wurde erneut die Stadt Odessa am Schwarzen Meer das Ziel von Raketenangriffen.

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