Konzernstrategie:Teurer Weckruf

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Mehr als 30 Milliarden Euro hat der Abgas-Skandal VW bisher schon gekostet. Das aber könnte durchaus auch sein Gutes haben.

Von Max Hägler

Wohin mit all den Wagen? Das BGH-Urteil dürfte VW noch mehr Geld kosten, zugleich wollen in der Corona-Krise weniger Menschen ein Auto kaufen: Gebrauchtwagen bei einem VW-Händler in Dortmund. (Foto: INA FASSBENDER/AFP)

Der Skandal ist so fern, hat wenig mit uns zu tun. So mögen manche gedacht haben im Herbst vor nun bald fünf Jahren im Volkswagen-Konzern. Das wird sich schnell einhegen lassen, und dann machen wir weiter wie gehabt. Doch das Gegenteil war der Fall. Seitdem die US-Umweltbehörde an jenem Freitag im September 2015 ihren "Letter of Violation" versandte, ist das Unternehmen nicht mehr richtig zur Ruhe gekommen. Das merkte der damalige Vorstandsvorsitzende Martin Winterkorn, der sich erst entschuldigte und dann zur Aufgabe seines Postens gedrängt sah. Das spürten die Arbeiter am Hauptsitz in Wolfsburg, wo am alten Kraftwerk ein riesiges Plakat aufgehängt wurde: "Wir brauchen Transparenz, Offenheit, Energie und Mut", stand da, unübersehbar.

Die Nachwehen spüren sie hier auch jetzt noch, fünf Jahre später. Die Autobranche steht unter Druck, die Käufer bleiben aus infolge der Corona-Krise. Besonders in die Bredouille gerät nun Volkswagen. Jetzt wird deutlich, dass die Milliarden wohl doch fehlen, die der Dieselskandal an Strafzahlungen und Schadenersatz gekostet hat. Dass die andauernde Unsicherheit, die Klagen, die Staatsanwälte vielleicht doch mehr Energie gekostet haben, als gesund ist. Mehr als eine Großkrise, das ist selbst für diesen riesigen Konzern viel.

Dabei darf man sich nicht täuschen lassen von den jüngst vorgelegten Bilanzen. Nimmt man diese, dann steht der Konzern samt seiner Marken wie Audi, Škoda, Seat, Porsche, MAN oder Scania hervorragend da. Im vergangenen Jahr wuchs der Gewinn unterm Strich um 13 Prozent auf gut 13 Milliarden Euro. Der Umsatz legte um sieben Prozent auf 253 Milliarden Euro zu. Mehr als zehn Millionen Fahrzeuge haben die 650 000 VW-Angestellten gebaut, mehr als der zweitgrößte Autobauer Toyota. Alles Rekordergebnisse.

"Volkswagen hat die Kosten der Aufarbeitung von mehr als 30 Milliarden Euro recht gut wegstecken können", sagt der Analyst Frank Schwope von der Nord-LB. Es hätte auch anders kommen können. Der Konzern habe die direkten Folgen nur überleben können, "da er vom Prinzip her grundsolide war und ist". Entscheidend gewesen sei dabei sicherlich die Strategie der Baukästen. Verschiedene Autos verschiedener Konzernmarken setzen dabei möglichst viele gleiche Teile ein. Die Ähnlichkeit etwa des Audi Q7 und des VW Touareg spart viel Geld bei Entwicklung und Produktion. Zugleich haben viele Kunden den Dieselskandal offenbar verziehen, wenn man vom Markt in Deutschland absieht. Qualität und Design - meist noch von Winterkorn abgesegnet - scheinen für viele zu stimmen. Und Schwope verweist auf den "Weckruf", den Wolfsburg auch bei der Motorenfrage gehört zu haben scheint. Alles auf Elektro, heißt es mittlerweile bei VW. Das klingt mutig. Die Diesel-Milliarden seien der Preis für diesen Gang in die Zukunft gewesen, sagt der Analyst treffend.

Doch tatsächlich ist die Lage schwieriger, als es in der Rückschau erscheinen mag - und der Preis des Skandals könnte eben doch gefährlich hoch gewesen sein für den Konzern, zumal er jetzt durch das Urteil des Bundesgerichtshofes noch weiter steigen wird.

Wegen der Corona-Krise halten sich die Käufer zurück, sowohl bei den Nutzfahrzeugen und Lastwagen als auch bei den Autos. Das allein ist schon schwierig. Aber bei der Kernmarke Volkswagen gibt es nun auch noch Qualitätsprobleme. Wenn man will, ist das die dritte Krise, neben Diesel und Virus: Der Golf 8, der wichtigste Wagen im Angebot, muss gleich nach dem Start zurück in die Werkstätten, weil die Software-Vernetzung nicht klappt. In der Folge funktioniert die vorgeschriebene Notruf-Funktion nicht. Und dann das Prestige-Auto, der sogenannte ID3. Es soll ein elektrisch angetriebenes Smartphone auf Rädern sein, so stellt sich das der jetzige Konzernchef Herbert Diess vor. Tatsächlich gibt es auch hier große Software-Probleme. Tausende bereits zusammengeschraubte Modelle stehen auf Parkplätzen und warten auf Updates. "Es ist echt schwierig", sagt einer, der ganz nah dran ist an allem. Die Entwickler tun sich offensichtlich schwer mit dieser neuen Generation an Fahrzeugen, bei denen nicht mehr so sehr das Spaltmaß zählt, sondern es auf die Bildschirme, die Fahrassistenzsysteme und das Zusammenspiel mit den Handys der Fahrer ankommt. Von vielen Überstunden ist in Wolfsburg und in der Audi-Zentrale in Ingolstadt die Rede und von Unruhe und dem Vorsprung von Tesla, der nicht kleiner werde, wenn man jetzt nicht liefere. Jetzt zeige sich, wo man hätte investieren sollen, wären die Diesel-Milliarden noch da: in Software-Experten, die so rar sind.

Und dann ist da noch die schwerer zu messende Frage der Unternehmenskultur. Sie hatten das Transparenz- und Mut-Plakat in Wolfsburg aufgehängt, weil sie wussten, dass da viel im Argen ist. Warnungen oder Widerspruch gingen oft unter. Auch dieses Verhalten führte in den Dieselskandal. Alles kleinreden, alles zum Wohl der Unternehmensgewinne, koste es, was es wolle. Um das zu ändern, verordneten die US-Behörden dem Unternehmen sogar einen Aufpasser, der Vorstand wurde erweitert. Hiltrud Werner kümmert sich um Recht und Compliance. Ein Vier-Augen-Prinzip gilt nun bei technischen Abnahmen. Die Entwicklung von Autos und ihren Abgasanlagen auf der einen Seite und ihre Prüfung auf der anderen Seite sind nun getrennt. Top-Manager werden in Umweltbelangen geschult. Transparenz und Offenheit sollen eben gelten, weil alles andere zu neuen Skandalen führen kann, weil es die Innovationskraft lähmt.

Klappt das? "Wir befinden uns auf einem guten Weg", sagt Werner. Doch ja, es sei noch ein "langer Weg" zu gehen. Acht bis zehn Jahre ab Start.

© SZ vom 26.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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