Konflikte:Bundesregierung sieht türkischen Rechtsstaat in Gefahr

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Türkische Flaggen und regierungsfreundliche Plakate schmücken einen Bus in Istanbul. Foto: Tolga Bozoglu (Foto: dpa)

Berlin/Istanbul (dpa) - Die Bundesregierung beobachtet das Vorgehen der türkischen Regierung gegen mutmaßliche Sympathisanten der Putschisten mit wachsender Sorge.

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Berlin/Istanbul (dpa) - Die Bundesregierung beobachtet das Vorgehen der türkischen Regierung gegen mutmaßliche Sympathisanten der Putschisten mit wachsender Sorge.

"Fast täglich kommen neue Maßnahmen hinzu, die einem rechtsstaatlichen Vorgehen widersprechen", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch in Berlin. Die Reaktionen auf den vereitelten Putsch seien unverhältnismäßig.

In Ankara beriet der Nationale Sicherheitsrat unter Vorsitz des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch über eine weitere Verschärfung des Kampfes gegen die Bewegung des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen. Erdogan macht Gülen für den Putschversuch aus Teilen des Militärs verantwortlich und fordert von den USA die Auslieferung des Predigers.

Eine Erklärung der türkischen Führung wurde nach einer Kabinettssitzung für den späteren Abend erwartet. Erdogan hatte vorab eine "wichtige Entscheidung" angekündigt. Vize-Ministerpräsident Nurettin Canikli sagte nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu, es werde "keinen Ausnahmezustand" oder dergleichen geben. Die neuen Maßnahmen sollten dazu dienen, dass der Staat noch effektiver von Anhängern der Gülen-Bewegung "gesäubert" werde. Alle Maßnahmen würden sich im Rahmen des Rechtssystems bewegen.

Seit dem Putschversuch mit mehr als 260 Toten geht die Regierung mit harter Hand gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger vor. Zehntausende Staatsbedienstete wurden suspendiert, mehr als 8500 Menschen festgenommen. 24 Fernseh- und Hörfunksendern mit angeblicher Gülen-Nähe wurde die Lizenz entzogen.

Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) kritisierte, dass die Entlassung von 15 000 Lehrern und die Rücktrittsaufforderungen an mehr als 1500 Dekane und Hochschulrektoren "ohne konkrete Beweise für ein Fehlverhalten" und ohne Anhörung der Betroffenen erfolgt seien. Dies widerspreche rechtsstaatlichen Prinzipien. "Eine wichtige Basis für eine funktionierende Demokratie ist eine Bildung, die offen gegenüber abweichenden Meinungen ist", erklärte Wanka.

Der türkische Hochschulrat hatte am Dienstag 1577 Dekane im ganzen Land zum Rücktritt aufgefordert. Die Zeitung "Hürriyet" berichtete am Mittwoch, alle diese Dekane hätten inzwischen ihren Rücktritt eingereicht. Der Hochschulrat habe die Rücktritte angenommen. Der Staatssender TRT berichtete, das Bildungsministerium habe mit den Verfahren zur Schließung von 626 Bildungseinrichtungen begonnen, darunter 524 Privatschulen. Gülen hatte einst großen Einfluss im Bildungswesen. Unklar ist, wie groß dieser Einfluss noch ist.

Die Ratingagentur Standard & Poor's senkte die Kreditwürdigkeit der Türkei um eine Stufe von bisher "BB+" auf "BB". Die Note rutscht damit noch tiefer in den sogenannten Ramschbereich. Nach dem gescheiterten Putschversuch habe sich die politische Landschaft weiter polarisiert, begründete S&P die Entscheidung. Dem Land stehe eine längere Phase der politischen Unsicherheit bevor.

Türkische Behörden sperrten den Zugang zur Enthüllungsplattform Wikileaks, nachdem sie angebliche E-Mails der Regierungspartei AKP im Netz veröffentlicht hatte. Die knapp 295 000 E-Mail-Nachrichten reichen Wikileaks zufolge vom Jahr 2010 bis zum 6. Juli dieses Jahres. Die Quelle für das Material aus dem Datenleck stamme nicht aus dem Umfeld der Putschisten. Der Enthüllungswert der Veröffentlichung blieb zunächst unklar.

Anhänger der pro-kurdischen HDP fürchten in der angespannten Lage nach den Worten des deutsch-türkischen Abgeordneten Ziya Pir um ihr Leben. "Sie haben Angst, gelyncht zu werden. Die Stimmung gegen Oppositionelle ist zu aufgeheizt. Pir begrüßte die Niederschlagung des Putsches. "Jetzt erleben wir jedoch leider einen zivilen Gegenputsch." Er warnte: "Diese Situation wird jetzt ausgenutzt, um unter dem Deckmantel der Komplizenschaft gegen alle Oppositionellen vorzugehen." Die Regierung weist diesen Vorwurf scharf zurück.

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