Kolumne:Kranke Häuser

Soll die Hälfte der Kliniken geschlossen werden, um so angeblich die Gesundheitsversorgung zu verbessern? Diese Forderung ist plump und falsch: Sie macht Angst

Kolumne: Heribert Prantl ist Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung.

Heribert Prantl ist Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung.

Der französische Schriftsteller Jules Romains hat ein Theaterstück über das Gesundheitswesen geschrieben, das "Knock oder Der Triumph der Medizin" heißt. Darin wird gezeigt, wie mit viel Trara und Getrommel gesunde Menschen in dankbare Patienten verwandelt werden. Das Stück ist fast hundert Jahre alt, es ist hierzulande aber nicht sehr bekannt und wird in Deutschland kaum aufgeführt.

Das liegt an zwei Dingen. Erstens hat der Alltag im deutschen Gesundheitswesen die Satire eingeholt: Es gibt eine florierende Befindlichkeitsindustrie, die einen Zustand ohne Beschwerden als suspekt erscheinen lässt. Zweitens ist der titelgebende "Triumph der Medizin" abgelöst worden vom Triumph der Betriebswirtschaft in der Medizin; der Taschenrechner ist da wichtiger als das Stethoskop.

Darunter leiden Ärzte und Patienten. In einer verbetriebswirtschaftlichten Medizin wollen die Betreiber ihre Krankenhäuser so ähnlich führen wie Autowerkstätten: Da werden Teile ausgewechselt, da wird lackiert und repariert - aber nur solange es sich rechnet; da werden Kranke sortiert in Cash Cows und Poor Dogs.

Poor Dogs: Das sind Patienten, mit denen eine Klinik kein Geld verdienen kann, mit denen sie womöglich draufzahlt; dazu zählen betagte Patienten, solche mit vielen Krankheiten, chronisch Kranke; dazu zählen Patienten, die sich wund gelegen haben oder Rheumatiker. Cash Cows - also Melkkühe - das sind Patienten mit Krankheiten, mit denen ein Krankenhaus satte Gewinne macht, bei denen technisch aufwendige Maßnahmen erforderlich sind, beispielsweise Hüft- und Kniegelenksoperationen, Nieren- oder Knochenmarktransplantationen.

Ist die Medizin noch Heilkunde, wenn die Klinikgeschäftsführung solche Unterscheidungen zur Vorgabe macht? Solche Ökonomisierung der Medizin ist ungut. Die Medizin ist keine Wirtschaftsbranche wie jede andere. Für Kranke sind Faktoren wichtig, die in betriebswirtschaftlichen Programmen keine oder kaum eine Rolle spielen: Zeit, Geborgenheit, und (auch wenn es altmodisch klingt) Barmherzigkeit. Manchmal besteht ärztliche Kunst darin abzuwarten und vorerst nichts zu tun; diese Kunst lässt sich nicht betriebswirtschaftlich optimieren. Der Lebensmodus, auf den das ökonomische System programmiert ist, ist der des Machens, nicht des Erleidens. Die Einfühlsamkeit gehört aber unbedingt ins Gesundheitswesen hinein: also nicht nur diagnostizieren, therapieren, operieren - sondern auch erdulden, aushalten, Zeit lassen. Was zählt eigentlich mehr, wenn Krankenhäuser an der Börse notiert sind: die Bedürfnisse des Shareholders oder die des Patienten? Wird in der Folge das Behandlungsspektrum eingeschränkt, nicht insgesamt, aber für langwierige, teuere Krankheiten? Wo bleibt die Daseinsvorsorge, zu der der Staat verpflichtet ist, wenn das Angebot der Rentabilität angepasst wird? Wo bleiben da Alte und chronische Kranke? Der Münchner Pflegekritiker Claus Fussek sagt daher, Pflege und Krankheit sind eigentlich "nicht börsen- und renditefähig".

Nun muss man nicht so tun, als ob bis vor Kurzem das Gesundheitswesen nur von Samaritern bevölkert gewesen sei und dann eine feindliche Übernahme durch Leute stattgefunden habe, die mit ihrem schweren Geldbeutel auf Kranke werfen. Natürlich ist im Gesundheitswesen immer auch verdient worden - vielleicht von anderen Leuten als heute, vielleicht mit anderen Methoden (siehe das Theaterstück von Jules Romains) als heute. Aber heute, im privatisierten Gesundheitssystem, steht das Geldverdienen unter dem Diktat von Wachstum, Wettbewerb, Kostensenkung und Gewinnsteigerung. Die Folgen nagen am Vertrauen zwischen Arzt und Patient.

Medizin, die den Gesetzen der Betriebswirtschaft gehorcht, verliert die Barmherzigkeit

Vertrauen? Die Art und Weise, wie jüngst die Bertelsmann-Stiftung ihre Studie über eine Radikalreform des Krankenhauswesens in die Gesellschaft knallte, war ein ungutes Exempel. Sie war vertrauenszerstörend und angstmachend. Sie war ohne Sensibilität, ohne Empathie und ohne regionale Differenzierung. Die Studie forderte, weit mehr als die Hälfte aller Krankenhäuser zuzusperren und stattdessen auf Großkliniken zu setzen - ganz im Interesse von Giganten wie der Rhön-Klinikum AG, in deren Aufsichtsrat Liz Mohn sitzt, die stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann-Stiftung.

Die "Krankenhausbettendichte" sei in Deutschland viel zu hoch: Das Gesundheitswesen, so die Studie, kranke an seinen Krankenhäusern. Das ist falsch. Es krankt vor allem daran, dass das System der Fallpauschalen, nach dem die Abrechnung stationärer Krankenhausleistungen erfolgt, die Gesundheitsversorgung monetarisiert hat: Operative Leistungen sind lukrativ, konservative Behandlungen nicht; das "sich Kümmern" wird kaum honoriert. Gesundheit hat aber auch mit der Psyche zu tun: mit Vertrauen, Ängsten, Lebensunsicherheiten.

Für den heimatlichen Wunsch der Menschen, ein Krankenhaus möglichst nahe zu wissen, hatte die Studie keinen Sinn - obwohl in einer älter werdenden Gesellschaft die Krankheiten, die damit einhergehen, auch in kleinen Kliniken gut behandelt werden können. Der Wunsch von Angehörigen, ihre Kranken ohne langwierige Fahrerei besuchen zu können, wurde mit kalter Sprache abgetan: Es gelte halt dann, hieß es, "Konzepte von Zubringerdiensten für Angehörige" zu entwickeln. Auf solche Dienste möchte man aber bitte nicht angewiesen sein. Krankenhäuser schließen, um die niedergelassenen Ärzte zu stärken? Frank Montgomery, der Ehrenpräsident der Bundesärztekammer, hält diese Forderung für "blanken Unsinn": In jenen Regionen, wo die Not der Krankenhäuser am größten ist, gebe es auch zu wenige niedergelassene Ärzte.

Kaiser Joseph II., ein Sohn der Kaiserin Maria Theresia, hat im Foyer der im Jahr 1784 in Wien neu errichteten Frauenklinik eine Tafel mit folgender Inschrift anbringen lassen: "In diesem Haus sollen die Patienten geheilt und getröstet werden." Solche Tafeln braucht es auch 235 Jahre später. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Nirgendwo aber wird man so viel angetastet und abgetastet wie im Krankenhaus und beim Arzt. Wir brauchen daher den Geist und das Denken, das in diesen Worten steckt: "In diesem Haus sollen die Patienten geheilt und getröstet werden."

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