Kindesmissbrauch:Opfer für Opfer, Zeuge für Zeuge

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Warum nach Jahrzehnten so viele Missbrauchsfälle auf einmal bekannt werden - und wie sich Schweigekartelle verhindern lassen.

Fabian Heckenberger

Günter Bierbrauer, 63, ist Professor für Rechtspsychologie an der Universität Luzern. Er hat in Stanford bei Philip Zimbardo promoviert, der 1971 das berühmt-berüchtigte Gefängnis-Experiment zur Erforschung menschlichen Verhaltens in einer geschlossenen Einrichtung machte.

SZ: Fast täglich kommen neue Missbrauchsfälle an Schulen und Internaten ans Licht. Warum wurde zuvor jahrzehntelang geschwiegen?

Bierbrauer: Solch ein Schweigekartell ist ein typisches Problem geschlossener Institutionen, in denen es ein Machtgefälle gibt und keine Kontrollmechanismen. Dann besteht die große Gefahr der Tabuisierung von Missbrauch. Es entsteht eine Atmosphäre, in der potentielle Täter davon ausgehen, sich Missbrauch erlauben zu können und Opfer oder Zeugen unsicher sind, wie damit umzugehen ist. Das gibt es augenscheinlich oft in kirchlichen Einrichtungen, aber auch in anderen Internaten und Schulen.

SZ: Sie vergleichen die Situation in Klöstern und Internaten mit dem Stanford-Gefängnis-Experiment. Als Wärter eingesetzte Studenten misshandelten ihre Kommilitonen, die als Häftlinge eingeteilt waren. Das Experiment musste nach sechs Tagen abgebrochen werden.

Bierbrauer: Ich will damit verdeutlichen, dass wir den Blick auf die Strukturen und Situationen richten müssen, nicht nur auf Personen. Die Studenten in Stanford wurden vorher psychologisch untersucht, keiner war verhaltensauffällig. Aber in der geschlossenen Institution des Gefängnisses, in der es vermeintlich keine Beobachtung und keine Kontrollinstanz gab, leistete sich ein Drittel der Wärter extreme Grenzüberschreitungen. Und die Opfer und die anderen Wärter schwiegen und akzeptierten.

SZ: Wie lässt sich das erklären?

Bierbrauer: In der Sozialpsychologie nennt man das "Pluralistische Ignoranz". Menschen wissen zuerst nicht, wie sie einen ungewohnten Übergriff einschätzen sollen. Das gilt ganz besonders für Kinder. Man hat Angst, schämt sich, schweigt und beobachtet die Reaktion der Mitmenschen. Die schweigen und beobachten aber auch, und so entsteht bei Zeugen und auch Opfern der Eindruck: Ich bin besorgt, die anderen nicht, also wird es nicht so schlimm sein. Man blockiert sich gegenseitig.

SZ: Und wenn eine Person diesen Prozess durchbricht, setzt sich eine Kettenreaktion in Gang?

Bierbrauer: Genau. Das ist vereinfacht gesprochen wie im Märchen "Des Kaisers neue Kleider", in dem ein Kind das Schweigekartell auffliegen lässt. Das erleben wir derzeit: Opfer für Opfer, Zeuge für Zeuge meldet sich. Es braucht also Mechanismen, um diese erste Meldung zu erleichtern und Mechanismen, die gewährleisten, dass solch eine Meldung ernst genommen wird.

SZ: Zum Beispiel?

Bierbrauer: An manchen Universitäten in den USA müssen Professoren jedes Jahr einen Bericht abgeben, ob es Annäherungen zu Studenten oder Studentinnen gab, ob sie von Verdachtsfällen gehört haben. Ich bin der Meinung, wir brauchen ähnliche Verfahren in Deutschland. Zum Beispiel ein größeres Gremium, an das sich Lehrer und Schüler bei vermeintlich auffälligem Verhalten wenden können. Dadurch wird bei möglichen Tätern die Erkenntnis geweckt, dass ein Fehlverhalten registriert und verfolgt wird, und bei den Opfern das Bewusstsein für Übergriffe geschärft.

SZ: Muss das Thema Missbrauch Bestandteil des Unterrichts werden?

Bierbrauer: Ja, aber auch Teil der Lehrer- und der Priesterausbildung. Junge Pädagogen müssen darauf vorbereitet werden, dass sie eventuell in eine Institution kommen, in der tabuisiert wird und die es ihnen ermöglicht, ihre Macht zu missbrauchen, was ein großer Anreiz für Fehlverhalten ist. Auch das zeigte die Untersuchung in Stanford: Die Brutalität der Wärter war dem situativen Kontext geschuldet. Gibt es keine Kontrollen und keine Sanktionsmöglichkeiten, wird zum Missbrauch geradezu eingeladen.

SZ: Führt das nicht zu einer Misstrauenssituation, in der bereits ein Kopftätscheln als verdächtig eingestuft wird?

Bierbrauer: Die Gefahr besteht. Andererseits: Nichts gegen diese Tabuisierung zu tun, ist keine Lösung. Wir müssen eine Kultur des Hinschauens entwickeln.

© SZ vom 15.03.2010/dgr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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