Karadzic vor UN-Tribunal:Schuld und Schweigen

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161 Personen angeklagt, 61 verurteilt und jetzt endlich Karadzic auf der Anklagebank, doch die Kriegsverbrecher-Prozesse der UN helfen dem Balkan nicht.

Enver Robelli, Zagreb

Die Welt war ratlos, als zu Beginn der neunziger Jahre der Krieg auf dem Balkan ausbrach. Der Westen ignorierte lange Zeit die Massaker, man wollte sich in diesen "Bruderkrieg" nicht einmischen. Die bemerkenswerte Parole lautete damals: Alle sind schuld, alle sind Opfer. Erst im Mai 1993, als angesichts der Kriegsverbrechen in Bosnien der Druck der Öffentlichkeit auf die Politiker im Westen zu groß wurde, beschlossen die Vereinten Nationen die Gründung eines Tribunals zur Ahndung von Kriegsverbrechen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Seither hat das Gericht 161 Personen angeklagt, 121 Verfahren sind abgeschlossen, 61 Angeklagte wurden verurteilt.

Ziel des UN-Tribunals war nicht nur, die individuelle Schuld an Gräueltaten nachzuweisen, sondern auch zur Versöhnung zwischen den Balkanvölkern beizutragen und künftigen Verbrechen vorzubeugen. Das ist nach Meinung des serbischen Journalisten Dejan Anastasijevic nicht gelungen. "Einige der schlimmsten Verbrechen, einschließlich des Genozids in Srebrenica, der Vertreibung der Serben aus Kroatien und der Gräueltaten im Kosovo, geschahen, nachdem das Tribunal seine Arbeit aufnahm", sagte Anastasijevic Mitte Februar auf einer Balkan-Konferenz, die von der Indiana University organisiert wurde.

Die Versöhnung lasse sich nicht von außen diktieren, nötig seien Geduld und Engagement der gesamten Gesellschaft. Doch die Gesellschaften auf dem Balkan seien nicht reif für diesen Prozess, meint Anastasijevic, der als einer der besten Kenner der jugoslawischen Zerfallskriege gilt und im Prozess gegen den Serbenführer Slobodan Milosevic ausgesagt hat.

Es überrascht deshalb nicht, dass die Fortsetzung des Prozesses gegen Radovan Karadzic auf dem Balkan fast keine Reaktionen ausgelöst hat. Die Opfer seiner mörderischen Politik in Bosnien kritisieren vor allem die Tatsache, dass es der UN-Justiz nicht gelungen ist, die Hauptverantwortlichen für die Schwerverbrechen auf dem Balkan zu verurteilen. Milosevic starb während des Verfahrens in seiner Haager Zelle, nachdem er jahrelang die Richter an der Nase herumgeführt hatte. Der Prozess gegen Karadzic beginnt erst jetzt - fast zwei Jahrzehnte nach dem Zerfall Jugoslawiens. Der kroatische Journalist Boris Dezulovic, der in Belgrad lebt, warnte kürzlich die Richter in Den Haag vor Karadzic: Er werde sie narren wie einst die ganze internationale Gemeinschaft. Und eines Tages werde der mutmaßliche Massenmörder den Vorsitzenden Richter fragen: "Sagen Sie mal: Wann haben Sie sich zum ersten Mal wie ein Esel gefühlt?"

Das Image des Tribunals ist besonders in Bosnien schlecht, weil Ratko Mladic, Befehlshaber der bosnisch-serbischen Truppen, noch auf freiem Fuß ist, vermutlich in Serbien. Dort findet erst jetzt die Debatte statt, ob das Parlament den Völkermord in Srebrenica verurteilen soll. In den meisten Belgrader Medien wird der Massenmord an den Muslimen als "Ereignis" bezeichnet - obwohl der Internationale Gerichtshof in Den Haag das Blutbad der serbischen Truppen als Genozid eingestuft hat.

© SZ vom 02.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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