Premierminister Justin Trudeau hat die vorgezogene Parlamentswahl in Kanada gewonnen, sein Ziel einer absoluten Mehrheit mit seiner Liberalen Partei aber verpasst. Die Regierungspartei errang nach Prognosen des öffentlichen Senders CBC bei der Abstimmung am Montag etwa 156 Mandate und ließ die Konservativen von Kontrahent Erin O'Toole mit ungefähr 122 Sitzen hinter sich. Damit können die Liberalen in dieser Wahl nur einen Sitz hinzugewinnen. Das reicht aber, um Trudeau eine dritte Amtszeit zu ermöglichen.
Das Ergebnis gebe ihm ein klares Mandat für eine Regierungsbildung, sagte Trudeau in seiner Siegesrede in der Nacht zum Dienstag. "Sie schicken uns mit einem klaren Auftrag zurück an die Arbeit, um Kanada durch diese Pandemie und in vor uns liegende, bessere Tage zu führen." Der konservative Oppositionsführer O'Toole räumte bereits seine Niederlage ein. Er habe Trudeau angerufen, um ihm zu gratulieren, sagte er in seinem Heimatwahlbezirk außerhalb von Toronto.
Die Umfragen waren zuletzt knapper, als die Liberalen sie sich gewünscht hätten
Der 49-jährige Trudeau hatte die vorgezogene Abstimmung vor wenigen Wochen ausgerufen - in der Hoffnung auf eine absolute Mehrheit unter anderem aufgrund der relativ erfolgreichen Corona-Politik seiner Regierung. Die Umfragen waren zuletzt aber knapper gewesen, als die Liberalen sie sich gewünscht hätten. Die Spitzenkandidaten der anderen Parteien und viele Kanadier hatten ihnen vorgeworfen, trotz einer vierten Welle der Pandemie und einer relativ stabilen Minderheitsregierung nach der absoluten Mehrheit zu greifen - und damit Zeit im Kampf gegen Covid-19 zu verschwenden sowie die Gesundheit der Wähler potenziell zu gefährden.
In seiner Rede ging Trudeau auf seine Skeptiker ein: "Ich habe Sie gehört. Sie wollen nicht mehr, dass wir über Politik oder Wahlen reden. Sie möchten, dass wir uns auf die Arbeit konzentrieren." Der Premier nannte die Beendigung der Pandemie, den Kampf gegen die Klimakrise sowie bessere Angebote bei der Kinderbetreuung als Prioritäten. "Unser Team, unsere Regierung ist bereit", so Trudeau.
Der konservative Spitzenkandidat O'Toole kritisierte Trudeau in seiner Rede unterdessen scharf. Der Premierminister habe auf einen schnellen Griff nach der Macht gehofft. "Die Kanadier haben ihn mit einer weiteren Minderheitsregierung zum Preis von 600 Millionen Dollar und tieferen Spaltungen in unserem großartigen Land zurückgewiesen." Die Gräben in der Gesellschaft dürften nicht aus egoistischen Gründen vertieft werden. O'Toole warf Trudeau vor, innerhalb von 18 Monaten erneut eine vorgezogene Wahl anzustreben.
Generell kommt Trudeaus Liberalen das Wahlsystem in Kanada eher zugute. Die Mandate in den 338 Wahlbezirken werden nach dem Prinzip der einfachen Mehrheit verteilt. Entscheidend sind lediglich einige Dutzend umkämpfte Bezirke vor allem in den Vorstädten der Großstädte Toronto, Montreal und Vancouver - ein wenig vergleichbar mit den "Swing States" in den USA. Trudeau regiert das nordamerikanische Land mit knapp 38 Millionen Einwohnern seit sechs Jahren - seit 2019 nur noch mit einer Minderheit der Sitze des Parlaments in der Hauptstadt Ottawa.
Trudeau hat Experten zufolge trotz einiger Erfolge ein Glaubwürdigkeitsproblem
Traditionell gibt es in Kanada keine Koalitionen, sondern entweder absolute Mehrheiten oder Minderheitsregierungen. Die letzte Abstimmung auf Bundesebene im Herbst 2019 brachte den Liberalen 157 Sitze, die Konservativen errangen 121. Die Liberalen haben im politisch moderaten Kanada historisch gesehen am häufigsten die Regierung gestellt.
In diesem Wahlkampf dominierten neben der Klimakrise vor allem innenpolitische Themen wie die steigenden Lebenshaltungskosten und die Gesundheitsversorgung. Trudeau hat laut Experten und Meinungsforschern trotz einiger politischer Erfolge ein Glaubwürdigkeitsproblem in Teilen der kanadischen Bevölkerung. Dies habe mit großen, aber nicht immer gehaltenen Versprechungen und mehreren Skandalen zu tun. Trudeau hatte 2015 die Wahl gegen den konservativen Stephen Harper mit dem Gelöbnis eines neuen, transparenten und modernen Führungsstils gewonnen; nach sechs Jahren als Premier hat sich sein Star-Appeal abgenutzt.