Justiz:Richter wollen "Gefährder" vor Lebensgefahr bewahren

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stoppt vorläufig die Abschiebung eines Islamisten.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Jahrelang hatte die Vorschrift brachgelegen, doch nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz hat Paragraf 58a Aufenthaltsgesetz eine rasante Karriere durchlaufen. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat die Norm, die eine Abschiebung sogenannter Gefährder in einem abgekürzten Verfahren ermöglicht, den Innenbehörden regelrecht ans Herz gelegt. Und das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat ihr den Stempel der Verfassungsmäßigkeit verliehen.

Deshalb kam es überraschend, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am Mittwoch die Abschiebung eines Russen aus Bremen vorerst gestoppt hat. Dabei war der 18-Jährige, so schien es, der Paradefall für eine Gefährderabschiebung: Deutliche Sympathien für den "Islamischen Staat", Billigung von Gewaltanwendung, Kontakte zur radikal-islamischen Szene - die Gerichte in Leipzig und Karlsruhe hatten keine Bedenken gegen seine Abschiebung.

Zwar hat das Menschenrechtsgericht nur eine vorläufige Entscheidung getroffen. Ein Einzelrichter hat auf der Grundlage einer Art Feuerwehr-Regel ("Rule 39") verhindert, dass Fakten geschaffen werden. Andererseits ist das Gericht beim Einsatz der "Rule 39" eher sparsam. Ein Veto aus Straßburg hat also etwas zu bedeuten.

Die Botschaft des Straßburger Eilbeschlusses lautet: Die Menschenrechte gelten auch für Gefährder. Sie bieten zwar keinen Schutz vor Strafverfolgung wegen terroristischer Aktivitäten - wohl aber vor einer "unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung" Verdächtiger, womöglich ohne Beweise und Gerichtsverfahren.

Im russischen Dagestan hat ein Terrorverdächtiger nur das Schlimmste zu erwarten

Das ist zwar eigentlich selbstverständlich. Schaut man sich freilich die Fälle an, in denen der Gerichtshof Abschiebungen vorläufig gestoppt hat, stößt man häufig auf Mitglieder besonders verletzlicher Gruppen: Christen aus dem Irak, Oppositionelle aus Weißrussland, iranische Frauen, die wegen Ehebruchs eine Steinigung fürchten mussten. Man wird die Intervention aus Straßburg daher als Signal dafür werten müssen, dass mit der Einstufung als "Gefährder" (die ja allein auf der Prognose künftiger Verbrechen beruht) noch keine Freistellung von der Menschenrechtskonvention verbunden ist.

Was aus dem jungen Mann aus Bremen wird, hängt nun davon, wie gefährlich es für ihn in Russland werden könnte. Er stammt aus der russischen Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus. Dort jedenfalls hätte er als islamistischer Gefährder nur das Schlimmste zu erwarten - daran lässt auch das Bundesverwaltungsgericht keinen Zweifel. Wer mit dem IS in Verbindung gebracht wird, dem drohen Misshandlung, Entführung, Tod. Auch im übrigen Russland ist es den Verwaltungsrichtern zufolge riskant für jemanden, der als islamistischer Extremist gilt - schon gar, wenn er kaukasisch aussieht. Nur weil er bereits als Kleinkind nach Deutschland gekommen ist, gehen die deutschen Richter davon aus, dass er in Russland eher nicht den kaukasischen Extremisten zugerechnet würde. Es sieht so aus, als wollte der Gerichtshof für Menschenrechte - durchaus vertraut mit den Gefahren dieser Weltgegend - diese optimistische Annahme noch einmal überprüfen.

© SZ vom 04.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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